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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
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vorgelesen bekommen, bevor sie alt genug waren, um selbst lesen zu können. Und ein Großteil des Lehrerkollegiums und fast alle Schüler der Academy hatten irgendein anderes Kinderbuch von Ted Cole gelesen. Aber niemand sonst hatte seine drei Romane gelesen; zum einen waren nicht mehr alle lieferbar, und abgesehen davon waren sie nicht besonders gut. Doch als treuer Exonianer hatte Ted Cole der Bibliothek der Academy Erstausgaben von allen seinen Büchern geschenkt und die Originalmanuskripte von allem, was er je geschrieben hatte.
    Aus den Gerüchten und Klatschgeschichten hätte Eddie mehr erfahren können als aus seiner Lektüre – zumindest mehr, was ihn auf die mühsamen Aspekte seines ersten Ferienjobs vorbereitet hätte –, doch Eddies Lesehunger war ein Beweis dafür, wie ernst er seinen künftigen Job als Schriftstellerassistent nahm. Eines freilich wußte er nicht, nämlich daß sich Ted Cole auf dem besten Weg zum Exschriftsteller befand.
    Die traurige Wahrheit ist, daß sich Ted chronisch von jüngeren Frauen angezogen fühlte; Marion war erst siebzehn und bereits mit Thomas schwanger gewesen, als Ted sie heiratete. Er selbst war damals dreiundzwanzig. Und als Marion älter wurde – auch wenn sie immer sechs Jahre jünger bleiben würde als Ted –, war das Problem, daß sein Interesse an jungen Frauen vorhielt.
    Die nostalgische Sehnsucht nach Unschuld, die ältere Männer offenbar verspüren, war ein Thema, dem der sechzehnjährige Eddie O’Hare bislang nur in Romanen begegnet war, und Ted Coles geradezu peinlich autobiographische Romane waren weder die ersten noch die besten, die Eddie zu diesem Thema gelesen hatte. Doch seine kritische Einstellung zu Ted Coles schriftstellerischen Qualitäten taten seinem eifrigen Bestreben, dessen Assistent zu werden, keinen Abbruch. Bestimmt konnte man eine Kunst oder Fertigkeit auch von jemandem lernen, der es nicht bis zur Meisterschaft gebracht hatte. Schließlich hatte Eddie in Exeter eine ganze Menge von recht unterschiedlichen Lehrern gelernt, die größtenteils ganz ausgezeichnet waren. Nur wenige hielten einen so langweiligen Unterricht ab wie sein Vater. Sogar Eddie ahnte, daß Minty selbst an einer schlechten Schule als Paradebeispiel für Mittelmäßigkeit aufgefallen wäre, von Exeter ganz zu schweigen.
    Als junger Mann, der auf dem Gelände und in dem mehr oder minder gleichbleibenden Umfeld einer guten Schule aufgewachsen war, wußte Eddie, daß man von älteren Menschen, die hart arbeiteten und an bestimmten Werten festhielten, eine Menge lernen konnte. Allerdings wußte er nicht, daß Ted Cole aufgehört hatte, hart zu arbeiten, und daß die wenigen fragwürdigen »Werte«, die er sich bewahrt hatte, durch das Scheitern seiner Ehe mit Marion und den unverwindbaren Tod seiner beiden Söhne noch weiter gelitten hatten.
    Ted Coles Kinderbücher fand Eddie in intellektueller wie auch in psychologischer (und sogar emotionaler) Hinsicht interessanter als seine Romane. Für Kinder eine Geschichte zu schreiben, die eine Moral enthielt, fiel Ted nicht schwer; er konnte sich ihre Ängste vorstellen und diese zum Ausdruck bringen, er konnte ihre Bedürfnisse befriedigen. Hätten Thomas und Timothy länger gelebt, wären sie als Erwachsene von ihrem Vater bestimmt enttäuscht gewesen. Und auch Ruth sollte erst als Erwachsene von Ted enttäuscht sein; als Kind liebte sie ihn über alles.
    Eddie befand sich mit seinen sechzehn Jahren irgendwo in der Schwebe zwischen Kind und Erwachsenem. Seiner Meinung nach gab es keine Geschichte, die einen besseren Anfang hatte als Die Maus, die in der Wand krabbelt . »Tom wachte auf, Tim aber nicht.« Ruth Cole sollte in ihrem ganzen späteren Leben als Schriftstellerin – und wie sich herausstellte, übertraf sie ihren Vater auf diesem Gebiet bei weitem – immer neidisch auf diesen ersten Satz sein. Sie konnte auch nie vergessen, wann sie ihn zum erstenmal gehört hatte, nämlich lange bevor sie wußte, daß es der erste Satz eines berühmten Buches war.
    Zum erstenmal hörte sie ihn im Sommer 1958, als sie vier Jahre alt war, kurz bevor Eddie zu ihnen kam. Diesmal war es kein leidenschaftliches Stöhnen, von dem Ruth geweckt wurde, sondern ein Geräusch aus ihrem Traum, das beim Aufwachen noch nachklang. Im Traum hatte Ruths Bett gezittert; als sie aufwachte, zitterte sie selbst, und folglich schien auch ihr Bett zu zittern. Auch als Ruth schon hellwach war, hielt das Geräusch noch mindestens eine Sekunde lang an.
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