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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition)
Autoren: John Irving
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Können, auch wenn niemand behauptet hätte, Die Maus, die in der Wand krabbelt oder seine anderen Kinderbücher seien wegen der Illustrationen so erfolgreich.
    Verglichen mit der Faszination, die von seinen Geschichten ausging – stets gruselig, kurz und in einer klaren Sprache geschrieben –, waren die Illustrationen recht schlicht; vor allem waren es nach Ansicht all seiner Verleger zu wenige. Trotzdem kamen nie Beschwerden von Teds Lesern, jenen Millionen Kindern zwischen vier und vierzehn, manchmal auch etwas älter – und natürlich den Millionen junger Mütter, die Ted Coles Bücher in erster Linie kauften. Diese Leser wären nie auf die Idee gekommen, daß Ruths Vater viel mehr Zeit auf das Zeichnen verwandte als auf das Schreiben; jeder Illustration, die Eingang in eines seiner Bücher fand, gingen Hunderte von Zeichnungen voraus. Was jedoch sein Erzähltalent betraf, für das er berühmt war … – Ruth hörte die Schreibmaschine immer nur nachts.
    Und nun stelle man sich den armen Eddie O’Hare vor. An einem warmen Junimorgen im Sommer 1958 stand er bei den Pequod Avenue Docks in New London, Connecticut, und wartete auf die Fähre, die ihn nach Orient Point auf Long Island bringen sollte. Eddie dachte über seinen Job als Schriftstellerassistent nach, ohne auch nur zu ahnen, daß er recht wenig mit Schreiben zu tun haben würde. (Als zukünftiger Graphiker sah sich Eddie erst recht nicht.)
    Angeblich hatte Ted Cole sein Studium in Harvard abgebrochen, um eine nicht sonderlich renommierte Kunstakademie zu besuchen – in Wirklichkeit war es eine Schule für GraphikDesign, auf der sich vorwiegend mittelmäßig begabte Studenten tummelten, die bescheidene Ambitionen in Richtung Werbegraphik hatten. Ted versuchte es erst gar nicht mit Radierungen und Lithographien; er bevorzugte schlichtes Zeichnen. Er behauptete gern, »Dunkel« sei seine »Lieblingsfarbe«.
    Ruth brachte die äußere Erscheinung ihres Vaters immer mit Bleistiften und Radiergummis in Verbindung. Er hatte schwarze und graue Flecken an den Händen, und an seiner Kleidung hingen unweigerlich Radiergummikrümel. Doch sein ganz persönliches unveränderliches Merkmal waren – selbst wenn er soeben gebadet und frische Sachen angezogen hatte – seine tintengefleckten Finger. Der Farbton der Tinte variierte von Buch zu Buch. »Ist das ein schwarzes Buch oder ein braunes, Daddy?« lautete Ruths Standardfrage.
    Die Maus, die in der Wand krabbelt war ein schwarzes Buch. Die Originalvorlagen waren mit chinesischer Tusche gezeichnet, Teds Lieblingsschwarz. Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen war eher ein braunes Buch, was dem im Sommer 1958 im Haus vorherrschenden Geruch entsprach. Teds Lieblingsbraun, das freilich eher schwarz als braun wirkte, war die frische Tintenfisch-Tinte mit ihrer Sepiafärbung, die leicht nach Fisch riecht.
    Teds abenteuerliche Versuche, die Sepiatinte frisch zu halten, stellten eine zusätzliche Belastung für das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen ihm und Marion dar, die von den geschwärzten Behältern im Kühlschrank die Finger zu lassen lernte; zum Teil lagen sie auch in der Tiefkühltruhe, gefährlich dicht neben den Eiswürfelschalen. (Im Laufe des Sommer versuchte Ted auch, die Tinte in den Eiswürfelschalen zu konservieren, was kuriose, wenn auch qualvolle Folgen hatte.)
    Zu den Hauptaufgaben von Eddie O’Hare – nicht als Schriftstellerassistent, sondern als Ted Coles designierter Chauffeur – würde zunächst einmal die regelmäßige Fahrt nach Montauk gehören, für die man eine Dreiviertelstunde hin und eine Dreiviertelstunde zurück brauchte. Denn nur im dortigen Fischgeschäft war man bereit, den Sepiafarbstoff für den berühmten Kinderbuchautor und -illustrator aufzuheben. (Wenn der Fischhändler außer Hörweite war, mußte Eddie sich von dessen Frau wiederholt erklären lassen, daß sie Teds »größter Fan« sei.)
    Die Werkstatt von Ruths Vater war der einzige Raum im Haus, an dessen Wänden kein einziges Foto von Thomas oder Timothy hing. Ruth fragte sich, ob ihr Vater vielleicht nicht arbeiten oder nachdenken konnte, wenn er seine verstorbenen Jungen vor Augen hatte.
    Es war auch der einzige Raum im Haus, zu dem Ruth keinen Zutritt hatte, es sei denn, ihr Vater hielt sich dort auf. Gab es in diesem Raum irgend etwas, womit sie sich hätte verletzen können? Etwa große Mengen scharfer Werkzeuge? Freilich lagen unzählige (verschluckbare) Zeichenfedern herum, aber
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