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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift
Autoren: Nigel McCrery
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schmalen
Zufahrtswege, die von seinem einsam gelegenen Haus nahe Saffron Walden
wegführten, von seinem Navigationssystem in Richtung Witham und zu
einem Ereignis geleitet, das bereits geschehen war, abgesehen von den
unvermeidlichen Aufräumungsarbeiten. Er machte sich nicht die Mühe, das
Radio einzuschalten oder eine CD einzulegen. Wenn er fuhr, konnte er
keine Musik hören: Man konnte nie wissen, was für ein
Geschmack – oder gelegentlich auch ein Geruch – ihn
plötzlich ablenken konnte, wenn eine bestimmte Melodie gespielt wurde.
Bevor seine Krankheit diagnostiziert worden war, damals, als er noch
geglaubt hatte, jeder könne Geräusche schmecken,
nicht bloß er und eine Handvoll anderer Menschen auf der Welt, war er
einmal beim Fahren auf beinahe fatale Weise abgelenkt worden, als ein
Beatles-Song seinen Mund plötzlich mit dem Geschmack nach fauligem
Fleisch überflutete.
    Das Leben war einfach eine Achterbahn unvorhergesehener
Sinneswahrnehmungen, wenn man an Synästhesie litt.
    Die Sonne schob sich über den Horizont und warf lange Schatten
über die Felder. Er fuhr zügig, aber aufmerksam, drosselte seine
Geschwindigkeit auf den langen Strecken durch das Stadtgebiet so, dass
die Ampeln jeweils grün waren, wenn er sie erreichte, und beschleunigte
dann wieder auf den Ring- oder Umgehungsstraßen, um Zeit herauszuholen.
Die Minuten rannen dahin, eine nach der anderen, während die Häuser
hinter ihm zurückblieben und von Wäldern abgelöst wurden. Er ließ sich
in eine gewisse Apathie gleiten, während er fuhr, und bemühte sich ganz
bewusst, keine Spekulationen über das anzustellen, was ihn am Unfallort
erwartete.
    Die Tatsache, dass er überhaupt zu diesem Fall hinzugezogen
wurde, war merkwürdig. Lapslie war schon seit sechs Monaten aus
medizinischen Gründen vom Dienst bei der Essex-Police
beurlaubt – seit sich seine Synästhesie plötzlich drastisch
verschlimmert hatte und seine Frau und seine Kinder gezwungen gewesen
waren, aus dem Haus auszuziehen, weil der dauernde Geräuschpegel ihn
verrückt machte. Sie hielten zwar weiterhin Kontakt, doch Lapslie
gewöhnte sich langsam an die Gewissheit, dass sie nie wieder eine
normale Familie sein würden. Er lebte in einer Zwischenwelt, hing quasi
in der Luft; er las Berichte, hielt sich in der sich ständig wandelnden
Welt der Polizeiarbeit auf dem Laufenden, schrieb gelegentliche
Gutachten oder Denkanstöße für die Polizeihierarchie und ließ sich
immer mal wieder spontan im Präsidium in Chelmsford blicken, ohne
jedoch an Tatorten anwesend zu sein oder Ermittlungen zu leiten. Bis
jetzt.
    Dieser Fall – um was immer es dabei auch
ging – hatte offenbar etwas mit seiner früheren Tätigkeit zu
tun, doch was, das war ihm schleierhaft. Er hatte schließlich nie an
besonders hochkarätigen Fällen gearbeitet. Als er nach seinem
Psychologiestudium bei der Polizei angefangen hatte, war er eine Weile
bei der Metropolitan Police in Nordlondon gewesen, ehe er befördert und
nach Liverpool und später dann wieder nach Essex versetzt worden war.
Ein paar Jahre hatte er in der Association of Chief Police Officers
verbracht, wo er seine psychologischen Kenntnisse dafür einsetzte,
bessere Profiling-Techniken zu entwickeln, um die
Persönlichkeitsstruktur von Schwerverbrechern zu erfassen. Dann hatte
er sich zwei Jahre freigenommen, um seinen Master in
Kriminalpsychologie zu machen. Wenn er zurückdachte, dann stieß er auf
nichts besonders Außergewöhnliches. Nichts, das ihn mit irgendeinem
ungelösten Fall in Verbindung bringen konnte, der gravierender war als
tätliche Beleidigung oder geringfügiger Diebstahl.
    Kurz nachdem er den Brain überquert, und etwa eine Stunde
nachdem er sein Haus verlassen hatte, bog Lapslie in die Straße ein,
auf der sich der Unfall anscheinend ereignet hatte. Bäume flochten ihre
Finger über dem Wagen ineinander, und die aufgehende Sonne hinter ihm
warf einen dunklen Schatten die Straße entlang.
    Gestreifte Absperrgitter blockierten den Weg etwa hundert
Meter vor einer sanften Kurve. Grell weißes Licht flackerte durch die
Bäume. Ein Streifenpolizist mit einem Klemmbrett in der Hand richtete
sich verlegen auf und marschierte wie eine Silhouette vor dem
künstlichen Morgenlicht auf ihn zu, wobei er bereits abwehrend den Kopf
schüttelte. Lapslie hielt den Wagen an und ließ das Fenster herunter.
    »DCI Lapslie«, sagte er und hielt dem Mann seinen
Dienstausweis hin.
    Der Polizist betrachtete die Karte und dann Lapslie.
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