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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift
Autoren: Nigel McCrery
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daran. Früher, vor langer Zeit,
hatte jemand im Morgenmantel vor dem Fernseher gekauert und darauf
gewartet, dass er auftauchte. Jemand, dem es nahegegangen wäre, wenn er
einen Autounfall gehabt hätte. Früher, vor langer Zeit.
    Er schüttelte sich und blickte um sich. »Wenn kein anderer
Wagen beteiligt war, wer hat dann die Polizei gerufen?«
    Emma grinste. »Ein Pärchen, das ein Stück weiter geparkt hat
und miteinander zugange war wie die Karnickel, hat das Krachen gehört
und das Geräusch von zersplitterndem Glas.«
    »Für die beiden hat die Erde also wirklich gebebt«, murmelte
Lapslie.
    »Die sind dann hingefahren – nachdem sie sich wieder
angezogen hatten, natürlich –, und als sie gesehen haben, was
passiert war, haben sie es gemeldet. Die Jungs von der Streife haben
ihre Aussagen aufgenommen und sie dann gehen lassen – zu ihren
jeweiligen Lebenspartnern.«
    Lapslie richtete seine Aufmerksamkeit auf das andere
Spurensicherungsteam, das sich um irgendetwas auf dem Boden drängte.
»Und der eigentliche Grund, weshalb Sie mich geweckt und den ganzen Weg
hierhergescheucht haben? Der Grund, weshalb mein Name im Computer
aufgetaucht ist?«
    »Die andere Leiche, die die Polizisten neben dem Fahrer
gefunden haben, als sie überprüft haben, ob der noch lebt.«
    »Am Telefon haben Sie gesagt, es ginge um deren Zustand?«
    »Ich glaub fast, wir haben es hier mit Die Nacht der
lebenden Toten zu tun.«
    Er nickte. »Gut, sehen wir's uns mal an.«
    Die beiden gingen auf die Gruppe zu. Kleine Zweige und Äste
knackten unter ihren Füßen, und Lapslie wusste nicht recht, ob der
säuerliche Geruch in seiner Nase von dem Geräusch oder von dem Unfall
allgemein herrührte, oder von beidem. Aus der Dämmerung war Morgenlicht
geworden, und das Stückchen Himmel, das er durch die Eingangsplane
sehen konnte, war klar und blau. Ringsumher schmeckte er Vögel und
Tiere in Bewegung.
    Sie kamen an der ersten Ermittlergruppe vorbei, und Lapslie
konnte nicht umhin, einen Blick auf die Gestalt am Boden zu werfen: ein
Mann, zerquetscht wie sein Wagen, in einem dunklen Anzug, der von
geronnenem Blut schmierig glänzte. Verdammter Totalschaden, um Emmas
Worte zu gebrauchen.
    Die zweite Gruppe drängte sich um etwas, das keine vier Meter
von der ersten Leiche entfernt auf dem Boden lag. Als Lapslie näher
trat, strafften sich die Männer kaum merklich, als gelte es, ihren Fund
zu verteidigen.
    »DCI Lapslie«, sagte er knapp. »Was haben Sie hier?«
    Der Einsatzleiter stand auf und wischte sich die Handschuhe an
seinem Overall ab. Lapslie hatte ihn früher schon an anderen Tatorten
gesehen, vor Jahren: ein kleiner Mann, Mitte fünfzig, mit einem Bauch,
der den Stoff seines Overalls wölbte, und mit einer weißen Haartolle,
die ihm wirr vom Kopf abstand.
    »Wir haben hier anscheinend einen Leichnam«, sagte er mit so
erschreckend deftigem irischem Akzent, dass das letzte Wort für Lapslie
fast wie ›Lachmann‹ klang. Seine Stimme schmeckte so, wie Lapslie sich
Brombeerwein vorstellte: schal und dünn.
    »Keine Verbindung mit dem Unfall?«
    »Verbindung schon, aber nicht so, wie Sie meinen. Schauen Sie
mal.«
    Und dort vor ihm, schräg aus einem Haufen Erde, Farnen und
Blättern ragend, lag eine Leiche. Wahrlich ein
Leichnam, mehr ein Skelett, zu dem man das eine oder andere hinzugefügt
hatte, als ein Toter, dem das eine oder andere abhandengekommen war.
Das Gesicht nur spitze Wangenknochen und tiefe Augenhöhlen, der Kopf
zur Seite verdreht und die Kiefer aufgerissen wie in einem grausamen,
stummen Todeskampf. Was an Haut noch vorhanden war, sah ebenso stumpf
und grau aus wie die Haare, die rund um den Schädel ausgebreitet waren.
Die Arme waren nach hinten gestreckt, dürr und trocken wie die Zweige
um sie herum. Was Lapslie von den Fingern sehen konnte, krallte sich
vergebens in den Lehmboden des Waldes.
    Und das Bizarrste von allem: Die Leiche war umgeben von einer
schmutzverkrusteten Plastikplane, an beiden Seiten so zusammengeknüllt,
dass sie wie riesige Flügel aussah, an jeder Schulter einer.
    Lapslie bekam die Spötteleien des Spurensicherungsteams nur
halb mit, als er neben dem Leichnam niederkniete, streng darauf
bedacht, nichts durcheinanderzubringen, was nicht bereits
durcheinandergebracht war. Alle Leichen sehen alt aus, das hier jedoch
sah aus, als sei es der Leichnam eines alten Menschen. Die untere
Hälfte war noch in der Erde begraben, die Plastikhülle war eng um
Hüften und Beine gewickelt, der
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