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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Autoren: Kendare Blake
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Die Pomade im Haar ist ein todsicherer Hinweis, und das ist hier nicht als Wortspiel gemeint.
    Ebenso der lockere, verschlissene Ledermantel, und natürlich die Koteletten. Ganz zu schweigen von der Art und Weise, wie er vor sich hin nickt und im Takt dazu sein Zippo auf- und zuklappt. Er sieht aus, als gehörte er in eine Tanztruppe, als sollte er einen Jet oder Shark darstellen.
    Aber ich habe natürlich auch einen scharfen Blick für solche Dinge. Ich weiß genau, worauf ich achten muss, weil ich schon so ziemlich jede Spielart von Gespenstern und Geistern gesehen habe, die man sich nur vorstellen kann.
    Der Anhalter treibt sich weit draußen auf einer gewundenen Straße in North Carolina herum, die zwischen endlosen Weidezäunen verläuft. Ahnungslose Fahrer nehmen ihn womöglich aus reiner Langeweile mit und halten ihn einfach für einen Studenten, der zu viel Kerouac gelesen hat.
    »Meine Freundin wartet auf mich«, erzählt er aufgeregt. Es klingt, als müsste sie gleich hinter der nächsten
Hügelkuppe auftauchen. Er tippt mit dem Feuerzeug zweimal auf das Armaturenbrett, und ich sehe genau hin, ob er nicht etwa eine Delle hinterlassen hat. Das Auto gehört mir nicht, und ich habe acht Wochen auf Mr. Deans Wiese geschuftet, ehe ich es mir ausleihen durfte. Mr. Dean ist Rentner. Er war Colonel bei der Army und wohnt ein paar Häuser weiter. Für einen Mann von siebenundsiebzig Jahren hat er den geradesten Rücken, den ich je gesehen habe. Hätte ich mehr Zeit gehabt, dann hätte ich den ganzen Sommer damit verbringen können, mir interessante Geschichten über Vietnam anzuhören. Stattdessen habe ich Büsche ausgerissen und ein zehn Quadratmeter großes Beet für neue Rosenstöcke umgegraben, während er mit mürrischer Miene zugeschaut hat, ob sein Augapfel bei diesem siebzehnjährigen Burschen mit dem alten Rolling Stones T-Shirt und den Gartenhandschuhen seiner Mutter auch in guten Händen ist.
    Um ehrlich zu sein, habe ich leise Schuldgefühle, wenn ich daran denke, was ich mit dem Auto vorhabe. Es ist ein dunkelblauer Camaro Rally Sport von 1969 in erstklassigem Zustand. Er gleitet seidenweich über die Straße und saust grollend um die Kurven. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er mir das Auto geliehen hat, Gartenarbeit hin oder her. Aber Gott sei Dank hat er es getan, denn ohne das Auto hätte es nicht geklappt. Auf so etwas steht der Anhalter – das Auto war es wert, aus der Erde zu kriechen.
    »Sie muss sehr nett sein«, sage ich, ohne großes Interesse zu zeigen.
    »Ja, Mann, genau.« Zum hundertsten Mal, seit ich ihn vor zehn Kilometern aufgelesen habe, frage ich mich, wie irgendjemand übersehen kann, dass er tot ist. Er spricht, als wäre er einem Film mit James Dean entsprungen. Ganz abgesehen von dem Geruch, der ihn umgibt wie eine Dunstglocke. Noch nicht richtig verwest, aber eindeutig gammelig. Gibt es wirklich Leute, die ihn für einen lebenden Menschen halten? Wie kann man so jemanden fünfzehn Kilometer weit bis zur Lowren’s Bridge im Auto behalten, wo er dann unweigerlich ins Lenkrad greift und den Wagen mitsamt Fahrer in den Fluss steuert? Wahrscheinlich fanden die anderen Autofahrer seine Kleidung und seine Stimme ebenso unheimlich wie den Geruch von Gebeinen – diesen Geruch, den sie zu erkennen glaubten, obwohl sie ihn wahrscheinlich noch nie bewusst wahrgenommen hatten. Aber da war es dann immer schon zu spät. Sie hatten beschlossen, einen Anhalter mitzunehmen, und wollten danach nicht ihrer Angst nachgeben und ihn wieder hinaussetzen. Stattdessen haben sie ihre Ängste wegargumentiert. Die Menschen sollten so etwas nicht tun.
    Der Anhalter hockt neben mir auf dem Beifahrersitz und erzählt mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen scheint, von der Freundin in seinem Heimatort. Angeblich heißt sie Lisa und hat hellblonde Haare und ein süßes Lächeln. Die beiden wollen durchbrennen und heiraten, sobald er aus Florida zurückgekehrt ist. Er hat da unten den Sommer über im Autohaus seines Onkels gearbeitet. Das war eine gute Gelegenheit,
das Geld für die Hochzeit zusammenzusparen, auch wenn sie sich dadurch mehrere Monate nicht sehen konnten.
    »Es muss schwer sein, wenn man so lange nicht zu Hause ist«, bemerke ich. Es gelingt mir tatsächlich, ein wenig Mitgefühl zu zeigen. »Aber deine Freundin wird sich bestimmt freuen, dich wiederzusehen.«
    »Bestimmt, Mann. Das will ich doch meinen. Ich habe alles, was wir brauchen, in der Jackentasche. Wir heiraten und
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