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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift
Autoren: Nigel McCrery
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Prolog
    Sommer 1944
    O ma, was ist das hier?«, rief Kate.
    Iris Poel seufzte. Die Sonne war ein weißglühendes Auge im
Zentrum eines hellblauen Himmels, das ihr in den Nacken starrte. Ihr
Kopf war wie aus Blei, und er schmerzte, wenn sie sich bewegte. Schweiß
prickelte ihr auf Armen und Rücken; es fühlte sich an, als krabbelten
überall Ameisen auf ihrer Haut.
    »Was ist was, Liebling?«, fragte sie zum hundertsten Mal an
diesem Morgen. Sie legte die Gartenschere hin, wandte sich von dem
Rosenstrauch ab, den sie gerade beschnitt, und blickte dorthin, wo ihre
Enkelin eigentlich mit ihren Brüdern und Schwestern spielen sollte.
    »Diese Dinger hier.« Das Kind stand drüben an der anderen
Seite des Gartens neben einem Busch voller glänzender Blätter und
kleiner roter Beeren. Kate hielt ein Büschel der Beeren in der Hand.
    »Finger weg von den Beeren!«, sagte Iris scharf. »Die sind
giftig.«
    »Das weiß ich. Aber was ist das?«, beharrte Kate.
    »Das nennt man einen Seidelbast«, zischte Iris, und bei jedem
Wort fuhr ihr der Schmerz wie Nadeln in die Schläfen. »Jetzt lass die
Beeren und geh wieder spielen.«
    »Das Spiel ist langweilig«, maulte Kate mit einer
Leidensmiene, wie sie nur ein sechsjähriges Kind zustande bringt,
machte kehrt und rannte durch den Garten zu einem niedrigen Tisch, den
Iris für die Kinder aufgestellt hatte, bedeckt mit einem weißen
Tischtuch. Das ganze Spielzeuggeschirr war darauf arrangiert, dazu
Teller mit Kuchen und Keksen.
    Doch niemand saß am Tisch. Drei von ihnen knieten im Gras und
spielten mit Kates Puppen. Zwei andere rannten um einen kleinen Baum
herum, den Iris im vorigen Frühjahr mitten in den Garten gepflanzt
hatte. Die Übrigen waren wahrscheinlich im Haus – im Haus von
Iris' Schwiegertochter. Eigentlich ja das Haus ihres Sohnes, aber Frank
war in Afrika, kämpfte für seinen König und sein Land, und Judith ging
jeden Tag in die Fabrik und stellte Flugzeugteile her. Und Iris blieb
es überlassen, die Kinder zu hüten. Jeden Tag. Jeden einzelnen Tag, den
Gott ihr als Heimsuchung schickte.
    Iris seufzte und wandte sich wieder dem Rosenstrauch zu. Auf
ein paar Blättern waren dunkle Flecken. Die knipste sie ab. Das sah
nach Sternrußtau aus, und man sollte es lieber nicht darauf ankommen
lassen.
    »Sind das hier Brombeeren?«
    Iris' Kopf fuhr herum. »Kate, ich dachte, du wolltest eine
Teegesellschaft mit deinen Freunden veranstalten?«
    »Der Tee schmeckt komisch«, meinte Kate. »Sind das hier
Brombeeren, Oma?« Sie stand jetzt dicht neben Iris und schaute zu einer
kleinen Eibe auf, die ein wenig Schatten über den Rasen warf.
    »Nein, das sind keine, lass das.« Der Schmerz in ihrem Kopf
wurde schlimmer. »Und der Tee, wie du ihn nennst, ist Sarsaparille. Du
magst doch Sarsaparille.«
    »Aber diesen Sarsaparille mag ich nicht.«
    Iris' Hand, die die Gartenschere hielt, zuckte. Sie schloss
die Augen. Den ganzen Morgen hatte sie damit zugebracht, diese Kuchen
und Kekse zu backen. Und das beste Tischtuch hatte sie aufgelegt, damit
es hübsch aussah, und jetzt verdarb das Mädchen alles.
    Iris blickte zu dem Tisch mit all dem verschwendeten Essen
hinüber. Auf den Marmeladentörtchen krochen Wespen herum.
    Wieder schloss Iris die Augen, aber trotzdem spürte sie, wie
die Sonne gleißend auf sie herunterbrannte. Von dem Pochen in ihrem
Kopf wurde ihr übel. Es war, als winde sich etwas in ihren Eingeweiden.
Sie konnte nicht stillhalten; ihre Finger zuckten, und ihr Kopf zuckte
immer wieder nach links oder rechts, als habe sie plötzlich aus den
Augenwinkeln etwas gesehen.
    Sie atmete tief durch und schlug die Augen wieder auf. Der
Garten war einfach zu hell; der erbarmungslos grelle Sonnenschein
schmerzte in ihren Augen.
    Sie reckte die Gartenschere nach einem weiteren Blatt, auf dem
sich Anzeichen von Rußtau zeigten.
    »Oma!«, kreischte Kate.
    Iris' Hand zuckte, und die Gartenschere durchschnitt den Stamm
des Rosenstrauchs. Die Pflanze kippte Iris ins Gesicht. Ein Dorn fuhr
ihr in die Wange, als sie den Kopf wandte, hakte sich dicht unter dem
Auge in die Haut und hinterließ einen langen Riss.
    Der Schmerz schnitt ihr förmlich durch die Seele.
    »Du dummes Kind!«, schrie Iris. Kate trat verdattert zurück.
»Schau, was du angerichtet hast!«
    Iris' Hand schnellte vor, packte Kates Schulter und zerrte sie
näher. »Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, um all die Kuchen da zu
backen, du undankbares kleines Biest? Ich werde dich lehren, hier im
Garten
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