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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut
Autoren: Marcel Feige
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Jungen im Auge zu behalten, der sich selbstbewusst zum Nachfolger Daniel Güizas erklärt hatte, einem der populärsten Stürmer der türkischen Fußballnationalmannschaft, stark, pfeilschnell und treffsicher. Und zum türkischen Rührei gehörten neben Knoblauchwurst, frischen Tomaten und Paprika auch Zwiebeln, die Sera gerade würfelte.
    Während sie gegen das Tränen ihrer Augen ankämpfte, kickte Eldin seinen Tennisball mit dem Feuereifer eines hoch motivierten Sechsjährigen quer durch den Flur. Dessen giftgrüner Teppich erinnerte auch wirklich zu sehr an den Stadionrasen seines Lieblingsvereins Fenerbahçe Istanbul.
    Sera beschloss, den abgewetzten Läufer zum Sperrmüll zu geben. Und zwar gleich morgen früh. Aber Hand aufs Herz: Diesen Vorsatz traf sie jeden Donnerstagmorgen, wenn sie ihre beiden Schwestern mit den Kindern, ihre Mutter Rukiye und gelegentlich ihre Tanten Fehime und Özge mitsamt Töchtern, Neffen und Nichten zum Frühstück in ihrer Friedrichshainer Wohnung empfing. Am Nachmittag war der Entschluss meist schon wieder vergessen, und der grüne Teppich blieb doch wieder bis zur nächsten Woche liegen.
    »Kazanan böyle görünür!«, feuerte Eldin sich selbst an. »So sehen Sieger aus!«
    »Mach bitte nichts kaputt.«
    »Türkiyem kupaları alda gel!« Er stimmte einen Fangesang an. »Meine Türkei, hole den Pokal und komme zurück!«
    »Abla!«, rief Sera nach ihrer großen Schwester Kayra.
    Doch Kayra konnte sie nicht hören. Das Geschnatter der Frauen im Wohnzimmer war mindestens ebenso laut wie Eldins Fußballgesänge. Ein Wunder, dass das acht Monate alte Baby von Deniz, Seras jüngerer Schwester, bei dem Lärm überhaupt schlafen konnte.
    »Haydi Türkiye!«, brüllte Eldin. »Auf geht’s, Türkei!«
    »Abla!« Sera bemühte sich verzweifelt, ihren Neffen im Auge zu behalten. Prompt rutschte ihr das Messer von der Zwiebel ab und streifte ihren Zeigefinger. »Aua!«
    »Was ist?«, antwortete Kayra.
    »Panelti!«, grölte ihr Sohn. »Elfmeter!«
    »Eldin soll bitte aufpassen.«
    »Das macht er doch.«
    »Gol! Gol!«, freute sich der Kleine. »Tor! Tor!«
    Nur eine Sekunde später erstarb sein Jubel. Etwas knallte, ein lautes Scheppern folgte, dann war es mucksmäuschenstill in der Wohnung.
    Sera legte das Messer beiseite. Bitte nicht die Vase! Sie trocknete ihre Augen mit dem Küchentuch. Nur langsam ließ das Brennen nach. Im Korridor fand sie den Tennisball. Vergessen lag er auf dem grünen Teppich, umringt von einem Dutzend weinroter Scherben. Vom Torschützen fehlte jede Spur.
    »Seray teyze, neden ağlıyorsun?« Im Durchgang tauchten Alisa und Mina auf, Eldins jüngere und ältere Schwester. Sie trugen Rüschenblusen, Röckchen und Ballerinas. »Tante Seray, warum weinst du?«
    Sera hockte neben den Überresten der alten Ochsenblutvase, ein Souvenir von einer spontanen Australienreise vor drei Jahren. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, zählte leise bis fünf und atmete aus. »Weil ich Zwiebeln geschält habe.«
    Mina zog die Stirn in Falten. Alisa, deren Nasenspitze mit einem Nutellafleck verziert war, gab sich mit der Antwort zufrieden.
    »Bu renk çok güzel.« Sera beugte sich zu den Porzellansplittern hinab. »Das ist eine schöne Farbe.«
    »Evet, kırmızı. Bunun neyini güzel buluyorsun?« Mina verdrehte die Augen. »Wirklich? Was ist denn daran schön?«
    »Dieses Rot bringt Glück«, erklärte Sera.
    »Hm. Seray teyze, ozaman onun şansı yoktu, değil mi?« Alisa rieb mit den Fingern über ihre Nasenspitze und verschmierte die Schokoladencreme über das ganze Gesicht. »Hm. Heute aber nicht, oder, Tante Seray?«
    »Jedenfalls weiß ich, wer heute auch kein Glück mehr haben wird.«
    »Eldin?«, fragte Mina. Für ihre siebeneinhalb Jahre war sie ganz schön schlau.
    Bevor die beiden Mädchen sich an den Scherben verletzen konnten, las Sera sie auf und beförderte sie in den Küchenmülleimer. Dann endlich rührte sie schweigend die Zwiebeln unter das brutzelnde Melemem. Im Wohnzimmer setzten währenddessen die Gespräche wieder ein.
    Als das Rührei stockte, bemerkte Sera die kleine und gedrungene Gestalt ihrer Mutter. Sie wusste nicht, wie lange sie schon im Türrahmen gestanden hatte.
    »Annecim?«, fragte Sera. »Mama?«
    Eldin drückte sich verängstigt an Annecims Hüfte. Die in den blaugelben Vereinsfarben von Fenerbahçe gehaltenen Streifen seines T-Shirts waren von Tränenflecken verunziert. Wie er dort mit verquollenen Augen zitterte, tat er Sera schon
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