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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut
Autoren: Marcel Feige
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entnahm er: S-Bahn-Desaster: Wird es noch schlimmer? Die wartenden Reisenden fluchten auf die Bahnmanager, den Berliner Bürgermeister und den Regen, den der Wind fast horizontal über den Bahnsteig fegte.
    Robert nippte an seinem Kaffee und wartete. In Amerika war er fast immer Auto gefahren. Was nicht zuletzt daran gelegen hatte, dass außerhalb der Ballungszentren keine öffentlichen Verkehrsmittel existierten. Die Amis liebten es, noch die kleinsten Besorgungen mit dem Pick-up oder einem SUV zu erledigen. Und das, obwohl auch Regen eine Seltenheit war, zumindest in jenen Bundesstaaten, die Robert kennengelernt hatte. Nur ganz am Anfang, als es ihn für ein verlängertes Wochenende nach Kentucky verschlagen hatte, war er in einen heftigen Sturm geraten. Das Unwetter hatte damals alle Spuren am Tatort verwischt; zu dieser Zeit war das FBI noch der Auffassung gewesen, dass der Knochenmann Spuren hinterließ.
    Vor Robert kam quietschend eine S-Bahn zum Stehen. Eine Menge gestresster Passagiere ergoss sich auf den Bahnsteig, während sich gleichzeitig durchnässte und schimpfende Pendler in den stickigen Waggon hineinpressten. Robert wünschte sich zurück in sein Hotelzimmer, wo er sich ins Bett legen, ausschlafen und … Vergiss es, du kriegst eh kein Auge zu. Er leerte den Kaffeebecher und quetschte sich in den Zug.
    Am Zoologischen Garten überraschte es ihn zu sehen, wie sehr der einstige Vorzeigebahnhof Westberlins heruntergekommen war. Alle paar Meter hockten Punker oder Penner. In den Ecken stank es nach Urin. Rasch wechselte Robert in die U2, die Richtung Ruhleben fuhr. Derweil begann es in seinem Magen zu rumoren, doch er war sich nicht sicher, ob der Hunger daran schuld war oder das, was vor ihm lag.
    In Neu-Westend stieg er aus und wandte sich nach Westen. Der Regen hatte nachgelassen, doch am grauen Himmel zeichnete sich bereits der nächste Schauer ab.
    Robert legte einen Schritt zu, bis er ein gusseisernes Tor erreichte, von dem ausgehend sich nach links und rechts eine triste Steinmauer erstreckte. Er blieb stehen. Nur für einen Moment. Sich sammeln. Kraft tanken. So viel Überwindung es ihn auch kostete, den nächsten Schritt zu gehen – er war unvermeidlich, wollte er nicht von dem ständigen Gefühl begleitet werden, nicht angekommen zu sein.
    Jemand räusperte sich. Eine ältere Dame mit leuchtend gelbem Friesennerz und ebenso grellen Plastikstiefeln hielt ihm angestrengt das Tor auf. Worauf wartest du noch? Er dankte ihr mit einem Kopfnicken. Der Regen trommelte auf seine Kapuze, während Robert den Friedhof betrat.
    Die Bäume und Sträucher, die die Gräber säumten, waren größer, als er sie in Erinnerung hatte, aber das war auch schon die einzige Veränderung, die er feststellen konnte. Das Ensemble trauriger, grauer Flachgebäude des Krematoriums, das sich rechter Hand vom Eingang erstreckte, wurde nach wie vor von ätzend grünen Sonnenblenden verschandelt. An den Gruften und Mausoleen, in denen prominente Berliner seit dem 19. Jahrhundert ruhten, nagte zusehends der graue Zahn der Zeit. Unter seinen Füßen knirschten Kieselsteine. Der Pfad war ihm bestens vertraut, er hätte ihm blind folgen können. Doch die Vertrautheit machte den Weg nicht leichter.
    Als er schließlich vor dem schmalen Grab stand, kam es ihm nicht so vor, als sei er tatsächlich vier Jahre lang fort gewesen. Die Ruhestätte war gepflegt, kein Unkraut in der durchnässten braunen Erde. Die Eriken und Narzissen waren frisch gepflanzt. Auf der Steinplatte in der Mitte flackerte ein Grablicht. Auch der Stein wirkte noch wie neu. Selbst den beiden Namenszügen, die in geschwungener Schrift in den Marmor gemeißelt waren, hatte die Zeit nichts anhaben können. Alles wirkte so, als wäre die Beerdigung erst gestern gewesen.
    »Elisabeth«, las er flüsternd den ersten Namen. Der Regen wurde heftiger. Das Wasser lief ihm in Strömen übers Gesicht. »Georg.«
    Er lauschte in sich hinein, aber da waren nur leise Melancholie und Müdigkeit. Also stimmt es: Die Zeit heilt alle Wunden.
    Zweifelnd beugte er sich zu einer Narzisse hinab, deren Stängel unter der Wasserlast nachzugeben drohte, als er die Anwesenheit einer anderen Person bemerkte. Jemand beobachtet dich. Irritiert hob er den Kopf, sah allerdings nur Regentropfen, die zu endlosen Fäden aneinandergereiht zu Boden strömten. Er wandte sich wieder der Blume zu.
    »Du bist wieder da?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm.

3
    Sera suchte den Blick ihrer Mutter.
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