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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut
Autoren: Marcel Feige
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Mülleimer.
    Kayra erzählte von ihrem zweiwöchigen Urlaub in Griechenland, zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern. Deniz war kurz vor ihrer Niederkunft nach Zonguldak gereist, einem kleinen Küstenort am Schwarzen Meer, wo sie die Verwandtschaft ihres Gatten hatte kennenlernen dürfen. Seras Eltern waren vor drei Wochen aus Istanbul zurückgekehrt.
    »Und wisst ihr, wen wir dort getroffen haben?« Annecim klatschte begeistert in die Hände.
    Ein ganzes Bündel Vorschläge wurde in die Runde geworfen: Namen von Cousinen aus Ankara, Halbbrüdern aus Sivas, entfernten Verwandten aus Kahramanmaras.
    »Da kommt ihr nie drauf«, lachte Seras Mutter.
    »Pek ala söyle«, verlangte Fehime, Seras zweite Tante, eine gut genährte Frau. Es gibt Menschen, deren Stimme nicht im Entferntesten zu ihnen passt. Fehime war eine von ihnen. Ihre Stimme war so hoch, als habe sie als Kind eine Überdosis Helium eingeatmet. »Nun sag schon!«
    »Ilhami!«
    »Ilhami?« Fehime wuchtete ihren Körper Richtung Sera. »Etwa der Ilhami?«
    Daher weht also der Wind. Sera spuckte einen Weintraubenkern in ihre Hand. »Ist der nicht schon verheiratet?«
    Annecim verzog das Gesicht. »Er ist Ingenieur, erfolgreich und wohlhabend.«
    »Das war nicht meine Frage.«
    »Und er ist sehr nett«, piepste Fehime. »Du kennst ihn doch.«
    Ilhami war der Cousin vom Sohn des besten Freundes von Seras Vater. Sie selbst hatte mit ihm die Schulbank gedrückt, bis er eines Tages mit seinen Eltern zurück in die Türkei gezogen war. »Ich habe ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«
    Annecim beugte sich geheimnisvoll vor. »Baba hat ihn getroffen und …«
    »Und was?« Sera spürte Wut in sich aufsteigen. »Kommt das etwa alles von Baba?«
    »Es ist nur ein Vorschlag von ihm.«
    Sera setzte zu einer wenig schmeichelhaften Erwiderung an, doch das Türläuten kam ihr zuvor. Zum Glück. Annecim war sowieso der falsche Adressat für ihren Zorn. Seras Mutter war, wie immer , nur der Bote.
    Sie flüchtete in die Diele zur Gegensprechanlage. »Ja, bitte?«
    »Sera, ich steh vor deiner Tür.« Es klopfte neben ihrem Ohr.
    Neugierig trippelte ihre Mutter in den Flur. »Erwartest du noch wen?«

4
    »Max?« Robert starrte seinen Bruder an wie ein Gespenst, das einer der umliegenden Gruften entstiegen war. Aber warum bist du so überrascht?
    Max schien nicht minder erstaunt. »Robert«, presste er hervor, dann war eine Zeit lang nur das Plätschern des Regens zu hören.
    »Es ist lange her«, brach Max schließlich das Schweigen.
    »Vier Jahre.«
    »Vier Jahre sind eine lange Zeit.« Als würde Max diese jetzt rasch überwinden wollen, machte er einen Schritt auf Robert zu.
    »Ich habe dir Briefe geschrieben.«
    »Und du glaubst, das macht es besser?«
    Max hatte sich seit ihrer letzten Begegnung kaum verändert. Er war von schmaler Gestalt, trug Doc Martens und einen Ledermantel, den er schon seit Jahren besaß. Sein Haar war ein bisschen länger, aber die Strähnen konnten nicht jene Sturheit verschleiern, die sich schon in dem blassen Gesicht des Jugendlichen gezeigt hatte. Natürlich gab es für Max’ Verbissenheit einen Grund, aber den hatte Robert schließlich auch gehabt, als er gegangen war.
    Nun standen unausgesprochene Vorwürfe zwischen ihnen wie eine Mauer.
    »Seit wann bist du in Berlin?«, fragte Max.
    »Dienstag.«
    »Und da hast du dich nicht bei mir gemeldet?«
    Robert schüttelte den Kopf.
    »Was ist mit Bo? Hast du dich bei ihr …?«
    »Nein, ich habe mich bei niemandem gemeldet. Ich wollte erst«, Robert deutete mit einem Kopfnicken auf das Grab, »zu unseren Eltern.«
    Die Miene seines Bruders entspannte sich ein wenig. Max ging vor den Grabpflanzen in die Knie. Mit den Fingern schnippte er das Regenwasser von den Blüten.
    Als Roberts Blick über die umliegenden Gräber glitt, fiel ihm eine Veränderung auf. Hinter einer strahlend weißen Buddha-Skulptur blähte sich ein gelber Regenmantel im Wind. Es war die ältere Dame, der Robert am Eingangstor begegnet war. In ihren Plastikstiefeln steuerte sie auf die beiden Männer zu, während sie ihre Augen prüfend auf das Grab gerichtet hielt.
    »Es sieht gepflegt aus«, sagte Robert, dem das Schweigen unangenehm wurde.
    »Ich kümmere mich jeden Tag darum. Einer muss es ja tun.« Aus einem Strauch hinter dem Grabstein zog Max eine kleine Harke hervor, mit der er demonstrativ die vom Regen lehmige Erde auflockerte.
    Derweil marschierte die alte Dame an ihnen vorbei. Sie lächelte mitleidig.
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