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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut
Autoren: Marcel Feige
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Während Robert ihr hinterherguckte, fragte er sich, wessen Grab sie wohl besucht hatte. Wahrscheinlich das ihres Ehemanns, mit dem sie, ihrer faltigen, aber zufriedenen Miene nach zu urteilen, dreißig oder vierzig glückliche Jahre verbracht hatte.
    »Und wie ist es dir ergangen?«, fragte Max.
    Robert war wieder im Hier und Jetzt. Die alte Frau war zum Ausgang verschwunden. »Hast du meine Briefe nicht gelesen?«
    »Doch, natürlich. Aber jetzt … Jetzt bist du ja wieder da.«
    Robert fixierte den flackernden Kerzenschein im roten Grablicht, während er sich seinen Aufenthalt in den Staaten in Erinnerung rief: das FBI, die Begegnung mit William K. King, ihre gemeinsamen Einsätze, irgendwann der Knochenmann und seine abscheulichen Verbrechen. »Es war keine einfache Zeit.«
    Max verzog den Mund. Das war nicht die Antwort, die er hatte hören wollen. Er richtete sich auf, nachdem er die Harke zurück in das Gebüsch gelegt hatte. »Du hättest dich bei mir melden sollen, Robert. Aber jetzt …« Er wischte sich die Hände an einem Taschentuch ab, dann lehnte er sich an den Grabstein, um seine Doc Martens vom Lehm zu säubern. »Weißt du, meine Arbeit … Ich muss jetzt los.«
    »Du hast es geschafft, oder?«
    »Du weißt davon?«
    Schon als kleiner Junge hatte Max von einer Karriere als Musiker geträumt. Nicht als Popstar oder Rockröhre wie andere Teenager in seinem Alter. Inspiriert von ihrer Mutter, deren Leidenschaft für Beethoven, Haydn und Antonio Salieri sie durch die Kindheit begleitet hatte, war seine Begeisterung für die Kammermusik entfacht worden, für die barocke Polyphonie, die Wiener Klassik, deren Sonaten, das Galante, Empfindsame. Heute gehörte Max als Streicher zum festen Ensemble des Orchesters der Deutschen Oper.
    »Internet«, antwortete Robert.
    »Ach so.« Max stapfte durch den Regen davon.
    Robert wartete darauf, dass sein Bruder sich noch einmal zu ihm umdrehte. Es gab so vieles, was er ihm gerne erzählt hätte. Doch Max war unerbittlich. Wie immer. Wenige Sekunden später war er hinter der gusseisernen Friedhofspforte verschwunden.

5
    »Ich erwarte niemanden«, sagte Sera.
    Ihre Mutter kräuselte die Stirn. »Und wer hat da geklopft?«
    Sera öffnete die Tür. Dem schmächtigen Mann im Treppenhaus klebte das wirre, braune Haar nass an der Kopfhaut. Seine Jeans und der Rollkragenpullover waren trocken, dafür hing ein tropfender Regenmantel über seiner Armbeuge. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen.
    Annecim musterte ihn skeptisch.
    »Das ist mein Kollege, Kriminalobermeister Gesing«, stellte Sera vor. »Werner, das ist meine Mutter.«
    »Angenehm.« Der Polizist deutete eine Verbeugung an. »Sera, es ist …«
    »… heute der freie Tag meiner Tochter!« Annecim hob tadelnd den Zeigefinger. »Das hat sie Ihnen doch vorhin schon am Telefon erklärt.«
    »Vorhin? Am Telefon? Aber ich … Autsch!« Gesing zuckte zusammen. »Sera, warum trittst du mich?«
    »Oh, Werner, entschuldige. War das dein Fuß? Den habe ich gar nicht gesehen. Was hast du gesagt, weswegen bist du gekommen?«
    »Ich habe noch gar nichts gesagt.« Verstimmt wischte sich Gesing die nassen Strähnen aus der Stirn.
    »Kommen Sie doch erst einmal herein.« Annecim trat beiseite. »Sie sind ja ganz durchnässt. Seray, hol für deinen Kollegen ein Handtuch. Und bestimmt hat er Hunger und …«
    »Danke, aber so viel Zeit bleibt uns nicht. Wir haben einen dringenden Fall. In Kreuzberg .« Er betonte den Stadtteil, als würde das alles erklären.
    »Kreuzberg?« , fragte Sera.
    »Ja, und der Chef hat ausdrücklich nach dir verlangt.«
    »Nach mir? Warum?«
    »Na ja, ich weiß nicht, ob ich …« Gesing warf einen entschuldigenden Blick ins Wohnzimmer.
    Wie Hühner auf einer Stange hockten die Frauen einträchtig schweigend auf dem Sofa. Auch Mina und Alisa hatten ihre Babypläne einstweilen auf Eis gelegt, und sogar Eldin blinzelte jetzt verstohlen in den Korridor. Hinter ihm plärrte noch immer der Fernseher, aber das Fußballspiel war vergessen. Ein echter, leibhaftiger Polizist war zweifelsohne spannender.
    »Warte einen Augenblick!« Sera flitzte ins Schlafzimmer. Ihre beiden Nichten folgten auf dem Fuß.
    »Seray teyze, şimdi gitmen gerekiyor mu?« Alisa pulte enttäuscht am Melemem herum, das auf ihrer Bluse trocknete. »Tante Seray, musst du jetzt gehen?«
    »Ja, leider.«
    »Warum denn?« Eldin lugte um die Ecke.
    »Weil ich arbeiten muss.«
    »Mit dem Kommissar da vor der Tür?« Ungläubig
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