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Cagot

Cagot

Titel: Cagot
Autoren: Tom Knox
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    Simon Quinn hörte einem jungen Mann zu, der schilderte, wie er sich den Daumen abgeschnitten hatte.
    »Und das«, sagte der Mann, »war der Anfang vom Ende. Ich meine, sich mit einem Messer den Daumen abzuschneiden, das ist doch schon der Hammer, oder? Ganz schön heavy, würde ich sagen. Sich den Daumen abzuschneiden. Mit Bowlen war danach jedenfalls nichts mehr.«
    Der Impuls zu lachen war fast nicht zu unterdrücken; Simon unterdrückte ihn. Das Schlimmste, was man bei einem Narcotics-Anonymous-Treffen tun konnte, war, über die fürchterliche Geschichte von jemandem zu lachen. Das war absolut tabu. Die Leute kamen zu diesen Treffen, um sich mitzuteilen, zu beichten und durch die Enthüllung ihrer dunkelsten Ängste und peinlichsten Erfahrungen eine Katharsis zu durchlaufen - und auf diese Weise Heilung zu finden.
    Der junge Mann kam zum Schluss seiner Geschichte: »Und das war der Punkt, an dem es bei mir schließlich klick gemacht hat. Ich habe gemerkt, dass ich wegen der Drogen, Crack und so weiter, was tun muss. Danke.«
    Im Raum wurde es kurz still. Eine Frau mittleren Alters hauchte ein »Danke, Jonny«, und die anderen fielen murmelnd mit ein: »Danke, Jonny.«
    Die Zusammenkunft war fast zu Ende. Sechs Leute hatten gesprochen; Broschüren und Schlüsselanhänger waren verteilt worden. Für Simon war es eine neue Gruppe, und sie tat ihm gut. Normalerweise ging er zu NA-Treffen, die abends in den Londoner Vororten stattfanden, näher bei seiner Wohnung, seiner Frau und seinem Sohn in der Finchley Road. Aber an diesem Tag hatte er beruflich in Hampstead zu tun gehabt und beschlossen, einmal an einem anderen Treffen teilzunehmen, etwas Neues auszuprobieren; er konnte die Storys der Feuerzeugbenzin pichelnden Säufer bei seinen üblichen Treffen langsam nicht mehr hören. Und deshalb hatte er die NA-Hotline angerufen und dieses Treffen entdeckt. Wie sich herausstellte, war es eine regelmäßige Mittagsveranstaltung - mit interessanten Leuten, die gute Geschichten erzählten.
    Die Pause zog sich hin. Vielleicht sollte er jetzt seine eigene Geschichte beisteuern? Er beschloss, die allererste Geschichte zu erzählen. Die große. »Hallo, ich heiße Simon, und ich bin süchtig.«
    »Hallo, Simon…«
    »Hi, Simon.«
    Er beugte sich vor - und begann:
    »Ich war Alkoholiker … mindestens zehn Jahre lang. Und ich war nicht nur Alkoholiker, ich war … ein typischer Fall von multipler Substanzabhängigkeit, wie man das so schön nennt. Ich habe ohne Übertreibung alles genommen. Aber darüber will ich hier nicht reden. Ich möchte … erzählen, wie es anfing.«
    Der Gruppenleiter, ein Mann in den Fünfzigern mit sanften blauen Augen, nickte freundlich.
    »Ganz wie du möchtest. Nur zu.«
    »Danke. Also. Gut. Ich … bin nicht weit von hier aufgewachsen, in Belsize Park. Meine Eltern waren durchaus gutsituiert - mein Vater ist Architekt, meine Mutter war Dozentin. Ich bin irischer Abstammung, aber … ich ging auf eine Privatschule in Sussex. Daher dieser bescheuerte englische Mittelschichtakzent.«
    Der Leiter setzte ein höfliches Lächeln auf. Hörte aufmerksam zu.
    »Und … ich hatte einen großen Bruder. Wir waren eigentlich eine glückliche Familie … zunächst… und dann ging ich auf die Universität, und dort bekam ich eines Tages einen verzweifelten Anruf meiner Mutter. Sie sagte: Dein Bruder Tim ist verrückt geworden. Ich fragte sie, was sie damit meinte, und sie sagte, er ist einfach verrückt geworden. Und so war es auch. Er war unerwartet von der Uni nach Hause gekommen und fing an, wirres Zeug zu reden, lauter Gleichungen und wissenschaftliche Formeln … und das Allerverrückteste war, dass er Deutsch sprach.«
    Er ließ den Blick über die in dem Kellerraum versammelten Gesichter wandern. Dann fuhr er fort:
    »Ich also auf der Stelle nach Hause, und wie sich zeigte, hatte meine Mutter nicht übertrieben. Tim war verrückt geworden. Komplett wahnsinnig. Er hatte mit seinen Freunden von der Uni ziemlich viel Gras geraucht … vielleicht war das der Auslöser … aber ich glaube, er war sowieso schizophren. Denn in dieser Lebensphase bricht Schizophrenie normalerweise aus, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig. Aber damals wusste ich das natürlich noch nicht.«
    Die Frau mittleren Alters trank aus einem Plastikbecher Tee.
    »Tim hat Naturwissenschaften studiert. Er war extrem intelligent - wesentlich intelligenter als ich. Ich kriege gerade mal bon-jour raus, aber er sprach vier Sprachen. Wie
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