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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
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aufrege und der guten alten Zeit nachtrauere, dann ist mir, als hörte ich meinen eigenen Vater predigen. Hör auf damit, sage ich mir, immer schon gab es Krieg und Brutalität, Gemeinheit, Egoismus und Habsucht, vor allem aber Blindheit gegenüber den Verführungen des Teufels. Der Mensch ändert sich nicht. Wenn man allen Ernstes glaubt, daß früher alles besser war, dann ist man alt. Das bin ich ja nun weiß Gott mit meinen über achtzig Jahren, aber im Kopf möchte ich noch eine Weile jung bleiben. Hulda sieht mich zweifelnd an: Ob du möchtest oder nicht, scheint sie zu denken, dein Hirn ist so alt wie der Rest.
    Ich bin Mitglied bei Greenpeace und wähle die Grünen, ich zahle für ein Patenkind in der Dritten Welt und habe mich bei einem Ostermarsch vor drei Jahren fast eine halbe Stunde lang mitgeschleppt. Das soll mir erst einmal einer nachmachen; die Frage ist, ob ich Hugo von diesen Aktivitäten überhaupt etwas sagen soll.
    Tu es nicht, rät Hulda, du hast mir doch erzählt, wie sehr er die Kommunisten haßt. Ostermarsch - das versteht er bestimmt nicht. - Quatsch, sage ich, ihr müßt nicht immer alles in einen Topf werfen; aber ich sehe ein, alte Männer sind konservativ und stur. - Hulda ist zufrieden mit mir und beginnt zu schaukeln. Ein Schuh fliegt vor meine Füße. Ich hebe den zierlichen Spangenschuh auf und sehe wieder einmal, daß solide Wertarbeit so viele Jahre fast ohne Spuren übersteht.
    Den Schuh hatte Vater für mich gemacht. Er bot seiner schwangeren Tochter an, ihre Hochzeitsschuhe persönlich anzufertigen.
    Ida wand sich. »Du hast schon so lange keine Schuhe mehr gemacht, Papa«, sagte sie sanft, »ich möchte dir das nicht zumuten.« Sie blickte dabei ohne Vertrauen auf Vaters eigene orthopädische Halbstiefel.
    Er war tatsächlich leicht gekränkt, und weil Hugo dabei war, sagte ich flink: »Mir kannst du aber welche machen, Papa, ich werde sicher auch bald heiraten!«
    Alle musterten mich aufmerksam, hatte ich mit meinen sechzehn Jahren etwa einen heimlichen Liebhaber? Vater aber war so von seiner Idee angetan, einmal ein Paar elegante Damenschuhe herzustellen, daß er einwilligte. »Bei vier Töchtern kann es nicht falsch sein«, sagte er.
    Das Resultat war der elfenbeinfarbene Schuh in meiner Hand, der so wunderschön geriet, daß sich Ida schwarz ärgerte.
    Seit meine Schwester im Geschäft half, hatte sich Vater aus dem Laden zurückgezogen. Er saß in seinem Büro, las Zeitung und rauchte Zigarren, prüfte Rechnungen und Bestellungen und tauchte nur manchmal unvermutet auf, um seine Allgegenwärtigkeit zu demonstrieren. Später kam dann Hugo, schließlich auch ich ins Geschäft, und Vater konnte sich darauf verlassen, daß ständig ein Familienmitglied zur Kontrolle anwesend war.
    Ein gewisses Fräulein Schneider, das er bereits von seinem Schwiegervater als Fachkraft übernommen hatte, war außer ihm meine Vorgesetzte. Sie wußte über alles Bescheid und kannte Vater besser als wir. Zwischen Mutter und ihr bestand eine leichte Rivalität, aber beide waren klug genug, sich mit dem eigenen Territorium zufriedenzugeben. Fräulein Schneider wies mich an, wie man sich seitlich auf den niedrigen Anprobenhocker setzt - ohne daß dabei der Rock hochrutscht -, den Fuß des Kunden vor sich auf die Schräge bettet, rasch und geschickt die Schnürsenkel löst und den alten Schuh auszieht. Dabei mußte eine liebenswürdige und unerschrockene Miene angesichts der Überraschung durch fremde Socken, Strümpfe, Füße aufgesetzt werden.
    Wenn ich mir heute Schuhe kaufe, dann gibt es nur noch wenige Läden, in denen man von Fachpersonal beraten wird. Meistens sind es Kettengeschäfte mit Selbstbedienung, die Verkäufer lehnen desinteressiert an der Wand und plaudern miteinander, fühlen sich durch Fragen gestört und reagieren ungehalten. Da ich aber inzwischen nur noch Turnschuhe kaufe, ist es mir gleichgültig; ich gehe in ein Kaufhaus, suche die richtige Größe und trage den Karton an die Kasse.
    Ungeachtet des Verfalls meiner eigenen Schuhmode schaue ich im Wartezimmer und in der Straßenbahn den Leuten zuerst auf die Füße. Was man in der Jugend gelernt hat, das prägt. Obgleich ich heute selbst ein schlechtes Beispiel für die Schuhpsychologie unseres Vaters abgeben würde, so beurteile ich einen Fremden nach der Qualität seiner Schuhe. Zum Glück verhindern meine schlechten Augen, daß ich meine Vorurteile allzusehr pflege.
    Als ich meine Lehre als Verkäuferin begann, blieb Ida zu
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