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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
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ins Krankenhaus ein, bloß für ein paar Tage, meint er. Wahrscheinlich sind ihm die vielen drohenden Hausbesuche zu lästig. Auch Ulrich läßt da nicht mit sich reden, er hat wenig Lust, Hugo im Gästezimmer einquartieren zu müssen.
    Als die Sanitäter mit der Bahre kommen, wird Hugo kurzerhand aufgeladen und in den Krankenwagen verfrachtet. Mit einem unsagbar traurigen Ausdruck sieht er mich an. »Charlotte, hol mich schnell wieder zu dir...«, flüstert er.
    Ich muß so heftig weinen, daß weder Felix noch Cora oder Ulrich mich trösten können.
    Felix fährt mich heim. Aus unterschiedlichen Gründen fühlen wir uns beide schuldig. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, überlegt er, in welchen Betten Emilia und Mario jetzt schlafen werden; mir ist das vollkommen einerlei.
    »Ruf Regine bitte heute noch an«, sage ich meinem Enkel, »damit sie ihren Vater gleich morgen besuchen kann und mit dem behandelnden Arzt spricht. Ich habe im Augenblick kaum noch die Kraft, mich ins Bett zu legen.« Felix verspricht es.
    Schließlich bin ich wieder zu Hause, ganz allein. Ich bin sehr unglücklich, aber auch unendlich erleichtert.
    Hulda hat Nachwuchs bekommen! In ihrem Schoß ruht jene alte Puppe Hulda, die ich einst Albert zum Spielen überlassen hatte. Als ich in einem kindlichen Impuls sofort das eingestaubte Kleidchen abstreife, entdecke ich auf dem glatten Puppenleib den mit rotem Buntstift gemalten Bauchnabel. Alberts Werk: Es ist, als hätte ich ein letztes Zeichen von ihm erhalten!
    Heidemarie brachte mir das kostbare Stück mit der Behauptung, die Puppe habe einmal ihrer Mutter gehört. Dabei war es niemals Idas Puppe. Nachdem wir alle dem Mutter-KindSpiel entwachsen waren, muß unsere Mutter die Puppe ihrer ersten Enkelin, nämlich Heidemarie, geschenkt haben. Ihre Originalausstattung hat die Puppe mittlerweile verloren. Ida hatte ihr eine Baskenmütze aus schwarzem Samt genäht, das Kleid stammt aus Heidemaries Schneiderwerkstatt. Ein rot-grau geflammtes Art-deco-Muster, reine Seide, tief angesetzte Taille - sicher einmal hochelegant. Von Albert und mir wurde sie dagegen meist als Baby ausstaffiert, schließlich war sie unser Kleines und mußte Alberts Taschentuch als Windel tragen.
    Es war reichlich unverschämt von Ida, diese Puppe nicht an meine Töchter weiterzugeben. Selbst meine einzige Enkelin Cora ist nie in den Genuß gekommen, mit einer großmütterlichen Puppe zu spielen. Aber wahrscheinlich hätten Veronika, Regine oder Cora der armen Hulda den Garaus gemacht, und sie säße jetzt nicht vor mir. Die temperamentlose Heidemarie, die meine Puppe »Editha« getauft hatte, rettete ihr sozusagen das Leben.
    Meine Nichte war natürlich nicht eigens gekommen, um mir eine Puppe zu schenken. Zuerst besuchte sie Hugo im
    Krankenhaus, dann ihre neugewonnene Schwester Regine. Die beiden entdeckten allerhand gemeinsame Interessen, ganz zu schweigen davon, daß sie für ihren Vater ein Zimmer in einem geeigneten Altersheim suchen mußten. Ach Hugo, es tut mir ja in der Seele weh, daß du demnächst dorthin ziehen mußt, aber es geht nicht anders.
    Warum mußte er auch derartig herumspinnen! Er verwechselte Heidemarie mit Ida und Regine mit mir. Leider hat er meiner Tochter in einem solchen wirren Moment die ganze BernhardGeschichte erzählt. Ich nehme es Regine sehr übel, daß sie in ihrer großen Neugierde keine Scham empfand, ihren Vater regelrecht auszuhorchen. Anfangs hielt sie seine Erzählungen für Räubermärchen, aber dann schnüffelte sie in meinem Keller herum und entdeckte das Grab. Hugo hatte ja keine Gelegenheit mehr, es wieder ordentlich zuzumauern. Wenn sie dann wenigstens über das Geheimnis Stillschweigen bewahrt hätte!
    Nun weiß es Ulrich, leider auch Felix. Die Peinlichkeit war unermeßlich, denn mein Sohn hält mich seitdem für nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Ich vermute, daß meine Kinder geheime Konferenzen über mich abhalten. Wohin mit der Alten, wenn es noch schlimmer wird? Ein bemerkenswertes Angebot kam von meiner Enkelin Cora. »Wenn du nicht mehr allein leben willst, Oma«, sagte sie tatsächlieh, »dann komm zu mir nach Italien.« Ich möchte mein Darmstädter Haus nach Möglichkeit nicht verlassen, ich denke auch, daß ich es noch ein paar Jährchen halten kann. Aber dieses Angebot hat mir gutgetan.
    Wenn Hugo das Zimmer im Seniorenheim bezogen hat, werde ich ihn jede Woche besuchen. Regine und Felix wollen mich hinfahren, wann immer ich es wünsche. Aber ich möchte mir
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