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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
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der Beerdigung meiner Mutter trug, anziehen will, paßt es nicht. Ich bin geschrumpft wie Bernhard und sehe wie eine Vogelscheuche aus. »Hugo, wie findest du mich?« frage ich.
    Er meint, für ein paar Stunden und unter Ausschluß der Öffentlichkeit sei mein Aufzug zu vertreten.
    Wahrscheinlich gefällt ihm der Jogginganzug noch weniger.
    Emilia und Cora sind bereits im Keller, wir sollen bitte oben bleiben. An zwei Henkeln schleppen sie den gutverriegelten Schließkorb wieder herauf. Es ist noch längst nicht dunkel, aber die beiden tragen den Korb zum Wagen und laden ihn ohne besondere Mühe in den Kofferraum. Nachbarn, falls sie zufällig hinausschauen, werden denken, daß wieder einmal Wäsche abgeholt wird. Schließlich werden auch Hugo und ich in den großen amerikanischen Wagen komplimentiert; »mein chromgrüner Schlitten«, bemerkt Cora stolz.
    Wie gewohnt nehmen wir zusammen auf dem Rücksitz Platz; Emilia sitzt vorn neben Cora und plaudert mit ihr auf italienisch. Wir verstehen nichts. Es kommt mir vor, als ob alle anderen Chauffeure, die mich im Laufe meines langen Lebens gefahren haben, lahme Enten gewesen sind.
    In den letzten Jahren war es still und friedlich um mich. Gemeinsam mit Hulda verbrachte ich meine Tage zwar etwas eintönig, aber durchaus nicht langweilig. Lesen, fernsehen, einkaufen, mit Felix plaudern, Kreuzworträtsel lösen, einen Brief schreiben, ein bißchen Hausarbeit... Was ist das jetzt für ein verrückter Traum, aus dem ich gleich aufschrecken werde? Mit meiner Jugendliebe sitze ich in einem chromgrünen Schlitten, jage über die Autobahn (meine Enkelin fährt laut Felix »wie der Henker«), und im Kofferraum liegt eine Mumie, die vor fünfzig Jahren mein Ehemann war.
    Ein freundlicher älterer Mann öffnet uns die Tür.
    Cora hat das große Wohnzimmer ihrer Eltern umdekoriert, um den Tod regelrecht zu zelebrieren - vielleicht von ihren italienischen Freunden inspiriert. Der venezianische Spiegel ist mit schwarzem Flor umhängt, weiße Kallas stehen in einer chinesischen Vase auf dem Kaminsims, und über den Couchtisch ist ein schwarzes Tuch gebreitet. Cora hat aus allen Zimmern Leuchter geholt, die Gardinen zugezogen, jetzt steckt sie hohe weiße Kerzen und Räucherstäbchen an und läßt leise Musik ertönen. Vielleicht findet nicht nur der arme Bernhard nun eine letzte Ruhestätte, sondern auch ich komme zur Ruhe und kann ihn in meinem Herzen begraben.
    Im hinteren Garten, gut von Gebüsch getarnt, hat Mario eine Grube ausgehoben. Emilia und Cora öffnen den Schließkorb, der ebenfalls bereitsteht, und hieven behutsam das Leinenbündel heraus. An beiden Lakenenden lassen sie den Toten in das Grab hineingleiten. Ich darf die Blumen auf das weiße Tuch streuen.
    »Man müßte ein Gebet sprechen oder so etwas«, sagt Hugo, aber keinem fällt etwas Passendes ein.
    Schließlich singe ich mit meiner dünnen brüchigen Stimme Der Mond ist aufgegangen; nur Emilia stimmt ein.
    Seltsamerweise ist ihr das alte deutsche Lied vertraut, allerdings bloß die erste Strophe. Ich schaffe es bis zur letzten: »So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder; kalt ist der Abendhauch.«
    Bei dieser Zeile bekam ich schon als Kind eine Gänsehaut. Jetzt beginne ich mit den Zähnen zu klappern. Aber wir können anstandshalber noch nicht zurück in die warme Stube, weil Mario mit den abschließenden Erdarbeiten voll beschäftigt ist.
    Im Lichterschein, der vom Haus auf den dunklen Garten fällt, sehen wir plötzlich eine Gestalt über den Rasen laufen.
    »Hallo!« ruft es. Zum Glück ist es Felix, aber es paßt mir nicht, daß er Cora besuchen will und außerdem Dinge erfahren könnte, die ihn nichts angehen. »Was macht ihr hier?« fragt er fast gekränkt, weil er sich ausgeschlossen fühlt.
    »Wir begraben unseren Hund!« antwortet Cora geistesgegenwärtig.
    Felix steht jetzt neben mir. »Ihr habt doch seit Jahren keinen Hund mehr«, sagt er zu Cora.
    Sofort mischt sich Emilia ein. »E il cane mio! Meine Hunde, heißen Pippo!« behauptet sie.
    »War wohl eine Dogge«, meint Felix angesichts der großformatigen Grabkonturen.
    »Nein«, widerspricht Cora, »ein Bernhardiner!«
    Felix ist das egal, er friert.
    »Kommt rein, Leute, hier draußen ist es äußerst ungemütlich. Ich habe Licht im Haus gesehen, aber es hat niemand aufgemacht. Dann habe ich vom Garten her ein Lied gehört und bin dem Klang von Omas Stimme gefolgt.«
    Emilia schreit plötzlich: »La minestra!« und läuft aufs Haus zu,
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