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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
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könnte einem gewissen Onkel nachschlagen.
    Wäre Albert noch am Leben, er würde mich verstehen. Hulda ist unser gemeinsames Kind, zwar auch schon in die Jahre gekommen, aber noch schlank und rank, ohne geschwollene Gelenke und krummen Rücken, ohne tränende Nase, rote Augen und ohne orthopädische Schuhe. Einzig die Farbe blättert von ihrem blassen Gesicht. Übrigens ist Hulda keine richtige Frau, was man auf den ersten Blick jedoch nicht erkennen kann. Zieht man sie aber aus, dann zeigt sich ein schneeweißer Leib bar aller weiblichen oder männlichen Merkmale; und nimmt man die Perücke ab, dann glänzt ein spiegelglatter Glatzkopf, der erst durch falsche Haare ein hübsches Gesicht bekommt. Hulda ist ein zwittriger Engel, ein Wesen, das durch Verkleidung in jede beliebige Rolle schlüpfen kann.
    Eine Zeitlang bekam ich »Essen auf Rädern«, aber ich habe es wieder abbestellt. Es war allzu reichlich und schmeckte mir nicht. Nur um den jungen Mann, der es brachte, tut es mir leid. Er plauderte immer ein wenig mit mir. Ich weiß nicht mehr genau, ob er Philosophie oder Soziologie studierte. Jedenfalls hielt er mich nicht für verkalkt, denn zuweilen äußerte er sich zu Gedanken und Theorien, die mir ganz neu waren.
    »Adorno fordert das Recht des Individuums, ohne Angst anders sein zu können...« Dieser Satz ist mir in Erinnerung geblieben. In meiner Jugend war an ein solches Recht überhaupt nicht zu denken!
    Warum sich Albert das Leben genommen hat, weiß niemand so genau, aber ich ahne dunkel, daß es etwas mit Hulda zu tun hatte. Bei unseren Spielen war Albert die Mutter und ich der Vater.
    Der Soziologiestudent hat einen Pferdeschwanz und Ohrringe, weswegen ich alte Törin ihn vorschnell eingeordnet hatte; eines Tages brachte er seine Freundin mit, und ich mußte mein Weltbild revidieren. Als ich das Essen kündigte, schenkte ich ihm Alberts Ring: eine Steinkamee aus Achat mit dem edlen Profil eines griechischen Philosophen. Es gibt geistige Verwandte, die ebenso wie die leiblichen erben sollten.
    Genaugenommen gefallen mir die heutigen jungen Männer besser als die aus der Generation meiner Kinder oder gar die aus meiner eigenen Generation. Albert war der einzige Junge, mit dem ich kichern konnte. Man erzog die Männer dazu, Weinen und Lachen zu unterdrücken. Frauen durften ewige Kinder bleiben. Mit Albert hatte ich jene nicht endenden Lachanfälle, die für Lehrer wohl ein Kreuz sind, aber einem jungen Menschen so guttun. Felix und der philosophische Student haben damit keine Mühe. Sie können aus nichtigem Anlaß losprusten. Ich habe es fast ein Leben lang entbehren müssen.
    Als ich zehn Jahre alt war, fragte mich Albert, ob ich lieber ein Junge wäre. Ich hatte bisher nicht darüber nachgedacht, aber mir fiel sofort ein, daß meine älteren Brüder größere Freiheiten hatten als die Schwestern. »Man darf mehr«, sagte ich.
    »Man darf Soldat werden und sich im Krieg totschießen lassen«, sagte Albert, »man darf aber keine schönen Kleider tragen und keine Perlenketten auffädeln.«
    Sein Hang zu schönen Kleidern, Parfüm, Puppen und weiblichen Handarbeiten wurde ihm wahrscheinlich zum Verhängnis. Mein Vater steckte ihn ins Internat. Es war gut gemeint, Papa hatte eine Reformschule ausgesucht, wo nicht preußischer Drill im Vordergrund stand, sondern die Förderung des ganzheitlichen Menschen. Damit war dem Problem jedoch nicht abgeholfen, denn Albert, der pummelig und unsportlich war, wurde auch dort zu Leibesübungen herangezogen, die ihm zur Qual wurden. Sein einziger Trost war die Schulköchin.
    Albert hätte sich bestimmt mit meinem Enkel Felix und dem Studenten - heißt er Patrick? - besser verstanden als mit den rohen Kameraden aus dem Internat. Manchmal schmiede ich kühne Pläne: ich möchte Felix und Patrick zu einer GedächtnisTeestunde für Albert einladen. Erstens sollen sich diese beiden jungen Männer einmal kennenlernen, zweitens möchte ich über meinen toten Bruder sprechen.
    Aber zuvor müßte ich aufräumen. Das heißt, ich wollte schon längst ausmisten, seit meine Freundin Mielchen nicht mehr lebt. Die Wände hängen voller Kitsch, den sie mir im Laufe unserer langjährigen Freundschaft geschenkt hat und den ich aus Pietät zu ihren Lebzeiten nicht beseitigen konnte. Miele war eine herzensgute Frau, aber ohne Geschmack, das muß einmal gesagt werden. Mit Dürers Hasen, über den man ja noch streiten kann, fing es bereits in unserer Jugend an. Es folgten ein
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