Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
kurzem war er mit Nüssen gefüllt. Der Rand verläuft in zarten Bögen, an drei Stellen geht er in Flechtwerk über, dazwischen sorgen je drei rosettenförmige kleine Blumenbilder für festen Halt im durchbrochenen Porzellan. In der Mitte ist mein Teller zierlich mit chinesisch inspirierten Blüten und Blättern bemalt. Von diesen Kunstwerken wurde einmal in der Woche Kuchen gegessen, sonntags zum Kaffee im Salon. Ein fragiler, kaum gebrauchter Schreibtisch aus Kirschholz fand sich dort, dazu ein Büfett und ein mannshoher Spiegel, der auf einer Konsole ruhte. Sofa und Sessel waren mit lindgrünem Plüsch bezogen, die schweren Vorhänge aus dunkelgrünem Samt.
    Über dem Sofa hing ein Stich von Böcklins »Toteninsel«, über dem Büfett ein Bild der Königin Luise. Hier wurden alle Töchter mit ihren Verlobten fotografiert. Die Bilder machte unser Bruder Heiner, der eine Lehre bei einem Fotografen absolviert hatte und bei einer Zeitung arbeitete.
    Auf Idas Hochzeit konnte ich nicht tanzen, denn ich wurde zwei Tage vorher krank. Es war eine schwere Lungenentzündung, aber ich selbst glaubte, Gott habe mir als Strafe die Schwindsucht geschickt. Bis zum letzten Moment hatte ich gehofft, gebetet und durch Zauberei versucht, Hugos Heirat zu verhindern. Da Ida aber schwanger war, konnte ich vom Schicksal nur noch ihren baldigen Tod im Kindbett erhoffen. Ich wollte Hugo über dieses Leid hinwegtrösten, ihn nach einem Jahr heiraten und das Kind meiner Schwester in Liebe aufziehen.
    Gottes Strafe bestand nicht bloß aus einer Lungenentzündung. Mein Vater beschloß, da sich Ida nicht mehr im Laden zeigen sollte, mich zum Schuhverkauf heranzubilden. Eigentlich war Fanni die nächste, aber sie hatte ein Jahr zuvor eine Ausbildung begonnen, besuchte das Fröbelseminar und wollte Kindergärtnerin werden. Fanni war stark genug, sich dem Ansinnen unseres Vaters zu widersetzen, allerdings auf meine Kosten. Ich hatte gerade die mittlere Reife bestanden, an Ostern 1926, und wollte auf jeden Fall das Abitur machen und am Ende sogar studieren. Schon bei den Söhnen hatten meine Eltern ein Studium abgelehnt, bei einer Tochter war eine solche Extravaganz indiskutabel. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte
    Schuhe verkaufen, und zwar von morgens bis Ladenschluß Tag für Tag mit Hugo zusammen.
    Meine kleine Schwester Alice, 1919 geboren, behauptet gern, unsere Eltern hätten das Ende des Krieges mit ihrer Zeugung gefeiert. Bei Idas Hochzeit war sie acht Jahre und durfte als Jüngste beim Ringtausch in der Stadtkirche den Blumenstrauß halten. Auch Fanni glänzte als Brautjungfer, während ich weinend und fiebernd im Bett lag.
    Ich habe ein Foto von Alice in einem Messingrähmchen mit gewölbtem Glas, das Heiner bei Idas Hochzeit gemacht hat. Alice sitzt artig auf dem dicken Fauteuil und blickt genauso nachdenklich in die Welt wie heute. Wir älteren Schwestern trugen in ihrem Alter die Haare noch zu verschiedenen Zopffrisuren geflochten, bei Alice sieht man schon moderne Zeiten nahen. Das seidige Kinderhaar ist zu einem kurzen Bubikopf geschnitten, die Ponyfransen reichen bis zu den Augenbrauen. Für die Hochzeit und das Foto bekam sie ein neues kurzes Kleidchen, in der Taille gesmokt; über der Brust hängt ein niedliches Silbermedaillon mit einem eingelegten Vergißmeinnichtkränzchen aus Email. Weiße Kniestrümpfe, schwarze Spangenschuhe und ein Teddy runden die Komposition ab.
    Ach Hulda, ich lebe viel zu sehr in der Vergangenheit, das ist im Augenblick unangebracht. Bald kommt Hugo, ich möchte ihm nicht als sentimentale Greisin entgegentreten. Bevor er eintrifft, muß geputzt und aufgeräumt, ausgemistet und eingekauft werden. Ich werde heute noch Felix anrufen, schließlich ist er der einzige Enkel, der in der Nähe wohnt. Felix hat mir schon viel Arbeit abgenommen, mich zum Arzt gefahren - mein Gott, zum Friseur muß ich auch - und hat meine Rente abgeholt. Er kriegt jedesmal einen Geldschein, aber ich weiß, daß er auch ohne helfen würde. Vielleicht könnte er mit seinem Freund noch schnell die Wohnung streichen - ich werde nachher schon einmal alle Staubfänger abhängen, wenigstens im Wohnzimmer. Ob Hugo bei mir übernachten wird? Kann man einem so alten Mann das Klappbett im Kabäuschen anbieten?
    Natürlich ist Felix nicht da. Er studiert Maschinenbau und besitzt vielleicht deswegen diesen entsetzlichen Anrufbeantworter, auf den ich meine Botschaft sprechen soll. Ich hänge sofort wieder ein, hole dann aber doch einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher