Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
hätte man ihn umarmt, damals ließ man ihn einfach links liegen. Auch Ida schämte sich vor der neuen Verwandtschaft.
    Unser Bruder Albert, der sich aus Liebe vor allen entblößt hatte, schlich wie ein getretener Hund davon. Am Fußende meines Bettes sank er auf die Knie. Er konnte nichts erklären, ich weinte schließlich mit ihm.
    Später wurde auch Fanni getadelt. Wieso sie ihren jüngeren Bruder bei diesem peinlichen Auftritt unterstützt habe, wollte mein Vater wissen. Fanni war ihrerseits gekränkt. Sie hatte eine katholische Freundin und verriet zum ersten Mal, daß sie häufig die heilige Messe besuchte und von den dortigen Gebräuchen nachhaltig beeindruckt sei. Als mein Vater sich entsetzte, bekam er zu hören, daß diese bis dahin unproblematische Tochter ans Konvertieren dachte.
    Vielleicht hat die heftige Reaktion unseres Vaters Fannis Trotz geweckt, denn man könnte sagen, daß damals die Weichen für ihr späteres Leben gestellt wurden. Alberts Ave Maria hatte ihr Herz gerührt, und gerade das Unverständnis des Pfarrers und ihres Vaters ließ sie zur Märtyrerin werden. Albert wiederum hatte einfach deswegen gesungen, weil er seinen Gesang für unvergleichlich schön hielt.
    Übrigens hatte Albert ein Laster, gegen das die Familie nichts einzuwenden hatte: Seit er 1922 mit zehn Jahren »Das indische Grabmal« gesehen hatte, war er kinosüchtig. Unsere Eltern gehörten nicht zu jenen Bildungsbürgern, die ein Theater- oder Konzertabonnement besaßen; es war schon viel, daß sie für Fanni ein Klavier anschafften und Idas Begeisterung für Autogramme männlicher Filmschauspieler gelassen hinnahmen. Beim Kino witterten sie nicht den verdächtigen Geruch nach Kunst, sie sahen es als Volksbelustigung an, und wir durften häufig mit Albert den Ort seines Glücks aufsuchen. Er wußte gut Bescheid, kannte nicht nur die Namen aller Stummfilmstars, sondern auch die Regisseure und sogar die Filmarchitekten. Wenn ich in meinem späteren Leben ins Kino ging, war mir oft, als säße Albert neben mir, lutschte Bonbons und krallte seine Wurstfingerchen in die Vorderlehne. Manchmal drehte sich eine erboste Hausfrau nach uns um, weil Albert sich mit seinem Ring in ihrem Haarnetz verfangen hatte.
    »Du bist wie mein Vater«, sage ich im Scherz zu Hulda, »er war genau so ein Stubenhocker wie du.« Mein Vater wußte sein steifes Bein als Alibi einzusetzen, um nur in schwerwiegenden Fällen das Haus zu verlassen; am liebsten sah er es, wenn sich die ganze Familie um ihn, den Patriarchen, scharte. Meine
    Mutter hatte in jungen Jahren viel getanzt und wäre wohl sehr gern im Sommer ans Meer gefahren. Immerhin setzte sie es durch, daß sie gelegentlich mit einem der Kinder eine Operette besuchte. Unser Vater hegte tiefes Mißtrauen gegen Studierte und Künstler, erstere hielt er für arrogant, letztere für wahnsinnig. Einzig für technischen Fortschritt konnte er sich begeistern, und das war der Grund dafür, daß sein zweiter Sohn eine Fotografenlehre absolviert hatte. Inzwischen war Heiner bei einer Zeitung angestellt und schrieb kurze Bildberichte über lokale Ereignisse wie Turnertreffen, Kaninchenzüchter, goldene Hochzeiten oder Kirmes. Vater las die Zeitung gern, freute sich, wenn H. S. unter einem Artikel stand und betrachtete den Beruf seines Sohnes als eine halbwegs solide Angelegenheit, wenn auch nicht mit einem Handwerk vergleichbar. Sein ältester Sohn arbeitete bei Merck als Chemielaborant.
    Ernst Ludwig war ein Jahr älter als Ida, bei ihrer Hochzeit also zweiundzwanzig. Alle Söhne und Töchter wohnten zu Hause, denn noch hatte keiner eine eigene Familie gegründet. Doch für Ida, die demnächst ein Kind bekam, mußte eine neue Bleibe gesucht werden. Sie zog mit Hugo in eine Dreizimmerwohnung ganz in der Nähe, so daß mein Vater weiterhin alle Kinder um seinen Tisch versammeln konnte.
    Über die Jahre war ihm durch mangelnde Bewegung und gutes Essen ein stattlicher Bauch gewachsen, darüber thronte ein Doppelkinn. Er hatte schon früh seine Haare verloren, nur wenige kurzgeschnittene Reste umrahmten die polierte Glatze, dafür gediehen die Augenbrauen um so üppiger. Der Schnurrbart hing traurig nach unten und ließ ihn immer ernst erscheinen. Vater war aber kein unzufriedener Mann, er hatte es zu etwas gebracht und wurde respektiert. Wenn er klagte, dann über sein »Hinkebein«, die Verrohung der Jugend und die Zunahme radikaler politischer Bewegungen.
    Manchmal, wenn ich mich über die Gegenwart
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher