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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
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später, als ich vom Fenster aus zusah, wie er im Hof meinen großen Schwestern das Radfahren beibringen wollte, wagte ich mich aus meinem Versteck. Fanni und Ida stellten sich ziemlich dämlich an. Da ich viel sportlicher war, wußte ich genau, daß ich sie diesmal ausstechen konnte. Hugo hielt mich fest, aber schon bald sahen alle, wie ich ohne fremde Stütze triumphierend im Kreis herumfuhr.
    Allerdings nützte mir diese Kunst nicht viel, denn meine Eltern hielten es für unschicklich, daß ein junges Mädchen allein mit dem Rad auf öffentlichen Straßen unterwegs war. Im
    Gegensatz zu meinen Freundinnen durfte ich nur in Gesellschaft meiner Brüder radeln. Und obwohl Albert mich sicher sehr gern hatte, kam er doch nie auf die Idee, sich meinetwegen auf einen Drahtesel zu schwingen.
    Nun wird es also ernst mit dem Ausmisten. In zwei Wochen kommt Hugo, da soll nichts mehr an Miele erinnern. Kurz entschlossen hänge ich den Setzkasten ab, hole einen Waschkorb und bette den Miniaturkitsch hinein. Vielleicht hat irgendein Kind Freude an diesen Dingen. Wie zu erwarten war, zeigt sich an der entblößten Tapete ein helles Viereck. Entmutigt höre ich wieder auf.
    Heute ist es milde, Ende März fängt bekanntlich der Frühling an. Ich beginne wieder mit dem Blindentraining. Um mich nicht mißverständlich auszudrücken - ich kann noch ausreichend sehen, hören, riechen, nur weiß ich nicht, wie lange noch. Auf dem kurzen Weg zwischen den Schrebergärten hindurch bis zur kleinen Quelle versuche ich, immer wieder fünf bis zehn Schritte mit geschlossenen Augen zu gehen. Andererseits ist es natürlich schade: In allen Gärten blühen Forsythien, der Holunder grünt, Veilchen sind aufgeblüht, die Waldanemonen leuchten wie weiße Sterne. Wenn ich endlich auf der Bank sitze, schließe ich für längere Zeit die Augen. Das Brünnlein plätschert, Meisen zwitschern. Laut höre ich den Wind in den Baumkronen rauschen, und es gibt einen unheimlichen Ton, wenn zwei Äste aneinanderschaben. Auch ein Specht, ein Hund, ein Auto sind zu hören, schließlich ein Flugzeug, eine Motorsäge, die ferne Autobahn. Ich flüstere ein Gedicht von Theodor Storm:
    »Kein Klang der aufgeregten Zeit
    Drang noch in diese Einsamkeit.«
    Vor über hundert Jahren gab es wohl noch einsame Orte in Deutschland, wo man tatsächlich nur Naturtöne vernahm. Beim nächsten Ausflug werde ich mir außerdem die Ohren zuhalten und nur mit Nase und Haut auf Wind, Gerüche und Wärme reagieren.
    Der Frühlingswind macht mich sehnsüchtig und romantisch wie eine Braut. Ich muß kichern. Albert war der einzige Junge, mit dem ich herumalbern konnte, Hugo der einzige Mann. In zwei Wochen kommt er endlich wieder zu mir, nur ist er mittlerweile nicht weniger als achtundachtzig Jahre alt.
    Früher konnte ich Hugos Schrift ausgezeichnet lesen, aber jetzt habe ich schon beim allerersten Wort Probleme. Liebe Charlotte erwarte ich, aber mit diesem kleinen Schnörkel könnte man es auch als liebste auslegen. Allerdings hat er mich bisher nie mit liebste Charlotte angeredet. Soll ich dieser neuen Version eine tiefere Bedeutung beimessen? Ist es nur ein Trugbild meiner schwachen Augen oder gar eine Folge seiner zittrigen Hand? Überhaupt bin ich mir nicht im klaren darüber, in welcher Verfassung mir Hugo gegenübertreten wird. Er hört schlecht und will nicht mehr telefonieren, das weiß ich, und er trägt bei Gesprächen im allgemeinen ein Hörgerät. Vielleicht trägt er aber auch Windeln. Mit alten Männern habe ich wenig Erfahrung; im großen ganzen werden sie die gleichen Zipperlein wie wir Frauen haben, abgesehen davon, daß wir uns nicht mit einer Prostata herumquälen müssen. Aber das interessiert mich weniger, wichtig ist mir, ob Hugo geistig noch auf der Höhe ist. Andererseits könnte er sonst schwerlich allein auf Reisen gehen, oder kommt er womöglich am Arm seiner ältlichen Tochter?
    Seit ich die Achtzig überschritten habe, bin ich voller Dankbarkeit, daß meine Kinder mir meine Selbständigkeit noch nicht genommen haben. Ist es nicht auch für sie einfacher, mich hier wohnen zu lassen? Ein Leben im Altersheim wäre für mich schwer zu ertragen. Im Gegensatz zu mir wohnte Hugo nie allein; seit dem Tod meiner Schwester Ida wird er von seiner einzigen Tochter Heidemarie betreut, was ihn wohl weitgehend entmündigt hat. Warum ist er nicht bereits vor Jahren zu mir gekommen? Es ist fünf vor zwölf, liebster Hugo.
    Nur noch wenige Menschen sind am Leben, die
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