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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
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selbstgeklebtes Bild aus getrockneten Blumen, Hufeisen,
    Glastierchen, geschnitzte und bemalte Holzpantoffeln, Setzkästen mit Miniaturgeschirr, gehäkelte Elefantenkissen, Trachtenpuppen und schmiedeeiserne Barometer.
    Wahrscheinlich glauben mir die jungen Männer erst, daß ich dieses Zeug noch nie mochte, wenn es wirklich verschwunden ist. Aber wohin damit? Und anschließend müßte man wahrscheinlich tapezieren oder zumindest streichen - das alles sind Gründe dafür, daß ich meine Party mit Hulda und den jungen Männern noch nicht arrangiert habe. Vielleicht im Frühjahr, wenn es mir erfahrungsgemäß bessergeht, wenn ich mehr Energie und Lebenslust verspüre. Ich werde Waffeln backen, das müßte ich doch schaffen, dazu starken Kaffee servieren (oder trinken sie nur dünnen Kräutertee?) und viel Schlagsahne. Albert liebte Sahne. Hinterher einen Sherry - oder lieber vorher? Hulda soll mein lichtgelbes Seidenkleid mit dem Spitzenkragen und die elfenbeinfarbenen Spangenschuhe aus Papas Werkstatt anhaben. Ich selbst trage seit zwei Jahren Turnschuhe, das hätte ich mir früher auch nicht träumen lassen, erst recht nicht unser Papa. Aber man kann sagen, was man will, sie sind erheblich billiger als Schuhe mit Fußbett, so bequem wie Pantoffeln und gleichzeitig völlig trittfest. Mielchen ist tot, ihre Benimmregeln habe ich hinter mir gelassen.
    Mielchen war zwar eine Klassenkameradin, aber durchaus nicht meine Schulfreundin. Erst als sie sich mit meinem Bruder Heiner verlobte, kamen wir uns näher, denn seitdem erschien sie täglich in unserem Elternhaus. Sie war gerade zwanzig, als die Verlobung leider - oder Gott sei Dank - in die Brüche ging, weil Heiner sich in eine andere verguckte. Natürlich hatte unsere ganze Familie seinetwegen ein schlechtes Gewissen; ich tat alles, um Miele zu trösten. Bis zu ihrem Tod blieben wir Busenfreundinnen. Übrigens hat Mielchen nach dem Desaster mit Heiner ziemlich schnell geheiratet, einen braven Langweiler. Als sie mit siebenundvierzig Jahren Witwe wurde, machte sie die überwältigende Entdeckung der körperlichen Lust; von da an wurde sie tragischerweise zur romantischen Nymphomanin. Jahrzehntelang mußten arbeitslose Kellner und windige Einzelgänger ihre gehäkelten und gestickten Liebesandenken ertragen. Habe ich schlecht von meiner Freundin gesprochen? Das wäre falsch. Mielchen hatte ein großes Herz, von wem kann man das schon sagen?
    Mit ihr konnte ich über Albert sprechen. Damals, nach seinem Tod im Jahr 1933, rätselten wir Geschwister nächtelang über den Grund. Für die großen Brüder stand fest, daß Albert irgendwie »vom anderen Ufer« gewesen sein mußte, auch wenn sie sich nichts Genaueres darunter vorstellen konnten. Mangels Erfahrung mußten wir Schwestern ihre Theorie hinnehmen. Albert hatte nie einen Freund gehabt, er war ein einsamer Mensch gewesen. Vielleicht war ich die einzige, mit der er lachte und spielte. Obgleich er lange Zeit das jüngste Kind meiner Eltern blieb, war er keineswegs ihr Liebling - ich übrigens auch nicht. Meine Mutter war einfach überfordert nach insgesamt zehn Geburten, wobei drei Geschwister sofort starben. Meinem Vater hingegen gefiel dieser dickliche Knabe überhaupt nicht, und um nicht ungerecht gegen ihn zu sein, übersah er ihn meistens. Arm waren wir damals nicht, aber auch nicht besonders reich. Das Internat für Albert konnten wir uns eigentlich nicht leisten, doch wahrscheinlich wollte unser Vater mit dem hohen Schulgeld sein schlechtes Gewissen beruhigen.
    Heute schaukelt Hulda wie eine Wilde, mir wird ganz schwindelig davon, ich rücke mir meinen Stuhl ans Fenster, um sie nicht mehr im Blickfeld zu haben. Meine Sehkraft läßt immer mehr nach, ich brauche viel Licht. Es ist die Frage, wann ich erblinden werde. Um ihren Anblick noch ein wenig zu genießen, habe ich auf meine alten Tage damit begonnen, mir Blumen zu kaufen; früher hätte ich mir einen solchen Luxus nicht gegönnt. Allerdings trage ich auch jetzt keine breughelschen Prachtsträuße nach Hause, sondern nur wenige Einzelexemplare. Vor mir steht ein Glaskrüglein, das in meinem Elternhaus mit Öl oder Essig gefüllt war. In das Glas ist ein funkelnder Stern eingeschliffen, Henkel und Tülle sind aus Zinn. Um die Stiele der drei weißen Rosen schweben Hunderte von Luftbläschen, das Nordlicht meines Fensters verwandelt die Wasseroberfläche in flüssiges Silber. Ich verstehe die holländischen Maler, die solche Schönheit für alle Zeiten
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