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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch
Autoren: Ingrid Noll
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festhalten wollten und ihre Blumenstilleben mit Muscheln, Insekten und appetitlichen Früchten anreicherten.
    Morgen muß ich mir neue Blumen kaufen, die drei Rosen welken in Schönheit dahin. Wahrscheinlich werde ich mich für weiße Lilien der Sorte Casablanca entscheiden. Ich habe mich ganz auf weiße Blumen spezialisiert, vielleicht erinnern sie mich an die vielen Gräber meiner Lieben, jedenfalls erscheinen sie mir edler als ihre bunten Schwestern.
    Zum Einkaufen trage ich einen grasgrünen Jogginganzug, den mir meine Tochter Veronika aus Los Angeles mitgebracht hat, dazu die Turnschuhe und einen orangefarbenen Rucksack. Wie eine würdige Greisin sehe ich nicht aus, dafür bemerken mich die verblüfften Autofahrer schon von weitem. Durch den Rucksack habe ich für Stock und Blumenstrauß die Hände frei. Ich bin glücklich, daß mir mein Alter die Freiheit gibt, niemandem mehr gefallen zu müssen. Nun, ich will nicht lügen, wenn ich Besuch bekomme, verwandle ich mich ganz gern in eine, wenn auch welke, Edelrose.
    Sollte Felix in nächster Zeit einmal auftauchen, darf ich nicht wieder vergessen, ihn um eine Gefälligkeit zu bitten. Meine Küchenlampe füllt sich langsam, aber sicher mit toten Fliegen, ich mag nicht mehr auf die Leiter steigen, um die Glocke abzuschrauben. Außerdem muß der Myrtenbaum auf die
    Terrasse geschleppt werden, ich nehme an, daß es nun keinen Frost mehr gibt. Vielleicht könnte ich Felix auch um Rat fragen, wohin man Mieles Kitsch bringen soll, ich kann mich nicht entschließen, ihn in die Mülltonne wandern zu lassen.
    Als mein Enkel das letzte Mal zusammen mit einem Freund den defekten Fernseher wegbrachte, habe ich die beiden mit einem Balladenstündchen belohnt. Die jungen Herren staunten nicht wenig, als ich sowohl den Handschuh, den Erlkönig als auch Bürgers Lenore aus dem Gedächtnis rezitierte. Sie lernen heutzutage andere Dinge. Sollte ich einmal blind werden, so besitze ich einen Schatz an Liedern und Gedichten, aber auch an inneren Bildern, die mich begleiten werden. Aber Briefe werde ich nicht mehr lesen können. - Hulda, haben wir heute Post zu erwarten? - Ich gehe mal an den Briefkasten. Meine Kinder sind natürlich längst hier ausgezogen. In Darmstadt lebt nur noch Regine, die Mutter von Felix. Von den Enkeln erhalte ich gelegentlich eine Postkarte aus fernen Ländern. Thailand, Mexiko, Indien, Australien - sie scheinen vor nichts zurückzuschrecken. Ich überlege, ob ich einen der alten Goldrahmen mit diesen exotischen Bildern anfülle. Aber diesmal liegt keine Karte im Kasten, sondern ein richtiger Brief. Hugo hat geschrieben, er wird uns demnächst besuchen.
    Wer ist das? fragt Hulda.
    Hugo ist der rote Faden in meinem Leben, sage ich.
    Darauf kann Hulda sich keinen Reim machen. Ich weiß übrigens nicht genau, wie alt sie ist. Wie früher die Puppen meiner Töchter ist sie aus Pappmache gemacht, nicht etwa aus Plastik. Deswegen ist sie empfindlich gegen Nässe, und man sieht an ihrem linken Arm sine leichte Zerstörung, die wohl durch feuchte Lagerung entstanden ist.
    Hugo kommt! Ich habe ihn seit Idas Tod nicht mehr gesehen. Als ich ihn kennenlernte, war ich fünfzehn und Alice, das
    Nesthäkchen, erst sieben. Fanni war siebzehn, Ida zwanzig. Da man die Kleine nicht rechnete, sprach man von einem Dreimädelhaus, das sehr anziehend auf junge Herren wirkte. Hugo kam häufig in unser Elternhaus und tat anfangs, als hätte er sich mit meinen beiden großen Brüdern angefreundet.
    Ich war mir absolut sicher, daß er mich heimlich liebte, und glühte vor Begeisterung.
    Hugo flirtete mit mir und der kleinen Alice; mit Fanni und Ida unterhielt er sich stundenlang. »Nun, wer ist denn die Auserwählte?« fragte sogar unser Papa eines Tages gut gelaunt und sah die großen Schwestern neugierig an.
    Sie wurden beide rot, aber die Antwort kam von mir: »Ich!«
    Alles lachte. Leider war ich nicht geistesgegenwärtig genug, um mitzulachen. Ich lief hinaus und weinte. Später erfuhr ich, daß die älteste Schwester Ida bereits heimlich mit ihm verlobt war.
    Hulda schüttelt den Kopf. Das ist lange her, sagt sie, du wirst ihn doch nicht immer noch lieben?
    Nachdenklich sehe ich sie an. Übrigens Hulda, das Peinliche war nicht, daß die Eltern mein Geheimnis errieten, es war vielmehr die Angst, daß Ida ihrem Verlobten von meinem Liebestraum berichten würde. Gemeinsam würden sie sich über das naive Kind amüsieren. Von da an vermied ich Hugos Gegenwart. Erst einige Monate
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