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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Autoren: Simon X. Rost
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Washington, Karfreitag,
14. April 1865
    Der Schuss weckte ihn.
    Er dröhnte in seinen Ohren wie Geschützdonner, obwohl der Knall vom Lachen der Zuschauer gedämpft wurde. Tom sprang auf. Noch verwirrt vom Schlaf und begleitet von Bildern eines verlöschenden Traumes, versuchte er, sich zurechtzufinden. In den Geruch nach Seife und kaltem Zigarrenrauch von dem Mantel, auf dem er dösend gelegen hatte, mischte sich ein anderer, ein furchtbarer Geruch, als er die zeternde Garderobiere des Ford’s Theatre zur Seite stieß und unter dem ausladenden Kronleuchter die breite Treppe zu den Logen hinaufhastete.
    Es war der Geruch von Schießpulver.
    Im Laufen riss Tom den Colt aus dem Schulterhalfter.
    Wo zum Henker war Parker? Hatte sich der schmierige Fettsack wieder aus dem Staub gemacht? Saß er im »Star Saloon« nebenan und trank Whiskey mit dem Kutscher des Präsidenten?
    Die Zuschauer lachten jetzt nicht mehr. Stattdessen drangen schrille Schreie der Damen an Toms Ohr, dann ein dumpfer Aufprall auf Holz, wahrscheinlich der Bühne, und dann brüllte ein Mann: » Sic semper tyrannis! Der Süden ist gerächt!«
    Toms Füße hämmerten auf den roten Teppich, der mit Messingstangen auf der Treppe befestigt war. Als er oben nach rechts abbog und in den schmalen Flur mit der rotgoldenen Tapete und den flackernden Gaslampen zur Loge des Präsidenten rannte, spürte Tom sein Herz wie einen Hammer gegen das Brustbein schlagen. Er hatte geschlafen, verdammt!
    Die Türen der anderen Logen öffneten sich, massige Männer in edlen Cuts und Damen in Musselinkleidern sprangen erschrocken heraus und wichen noch erschrockener zurück, als Tom mit seiner Waffe an ihnen vorbeistürmte und sie wild mit den Händen zur Seite scheuchte. »Weg da! Weg da! Holen Sie einen Arzt!«
    Die Tür zur Präsidentenloge stand offen. Ein Mann im Militärrock kniete am Boden. Und da war Blut.
    Das Blut des Präsidenten.
    Tom zwängte sich zwischen Major Rathbone, einem kleinen bärtigen Mann mit breiten Schultern, und dem Türstock in die Loge. Mrs Lincoln hatte die Hände an die Wangen gelegt und zitterte. Sie schrie etwas, das Tom nicht verstand. Und er sah Clara Harris, die Verlobte des Majors, die versuchte, Mrs Lincoln zu beruhigen.
    Tom kniete sich hin, Major Rathbone stützte den Kopf des Präsidenten.
    Des angeschossenen Präsidenten.
    In Abraham Lincolns Hinterkopf klaffte ein ausgefranstes Loch von der Größe eines Silberdollars. Der Präsident war kaum mehr bei sich, seine Augen waren verdreht, und aus dem ohnehin hageren, oft blassen Gesicht war jede Farbe gewichen. Blut lief aus der Wunde über die schwarzen Haare in den weißen Stehkragen hinein. Der Präsident atmete flach.
    Tom spürte, wie der Zorn dumpf und schwer in ihm aufwallte wie eine Woge aus Blei. Jemand hatte auf den Präsidenten geschossen. Und er, Tom, hatte geschlafen. Er blickte zum Major.
    »Wer war das? Und wo ist er?«
    Erst jetzt sah er, dass der Major ebenfalls verwundet war. Die Uniform war am Arm zerfetzt, der dunkelblaue Stoff mit Blut getränkt. An der Stirn hatte Rathbone eine Schnittwunde.
    Der Major keuchte.
    »Booth. Der Schauspieler. Er ist über die Bühne geflüchtet. Er hatte die hier und ein Messer.« Rathbones Blick ging zum Boden. Neben dem Präsidenten lag eine Derringer. Eine ungenau zielende Waffe, aber auf kurze Distanz hatte das kleine Drecksding eine verheerende Wirkung.
    Tom wollte aufstehen, da packte ihn eine Hand am Arm. Der Präsident. Seine unsteten Augen versuchten, Tom direkt anzuschauen. »Sawyer? Sind Sie das?«
    »Ja, Sir.« Tom versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben, aber das Zittern darin konnte selbst einem Angeschossenen nicht entgehen.
    Lincolns Griff um Toms Arm wurde fester. »Dieser Mann darf nicht entkommen.«
    »Oh nein, Sir. Das wird er nicht.«
    »Bleiben Sie gut, Thomas. Bleiben Sie gerecht.«
    »Ja, Sir.«
    Tom schluckte, dann lockerten sich die Finger des Präsidenten um seinen Arm. Die Augen des großen Mannes schlossen sich.
    »Einen Arzt!«, brüllte Tom, seine Stimme überschlug sich. »Verdammt! Schaffen Sie einen Arzt her!«
    Er stand auf, beugte sich über die Balustrade der Loge in der unsinnigen Hoffnung, unter den verängstigt nach oben blickenden Zuschauern, die einen unterhaltsamen Abend mit Unser amerikanischer Cousin erwartet hatten, einen Arzt zu entdecken.
    Aber da war kein Arzt. Jedenfalls keiner, der sich zu erkennen gab.
    Auf der Bühne stand eine ältere Schauspielerin und starrte
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