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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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Einstimmigkeit herrscht. Ihr habt ohne Beweisführung verurteilt, ohne den Straftatbestand festzulegen. Ihr habt die Methode der Diktatur verinnerlicht; sogar die Sprache der Polizei; in dem Kommuniquá bezeichnet die Organisation Márcio als »Element.« Danach habt ihr Jaime hingerichtet, obwohl er der Führung alles erzählt hat, was er der Polizei unter Folter gestanden hatte. Hier lautete die Botschaft: Wer plaudert, egal ob unter Folter oder nicht, ist ein Verräter. Als ob es möglich wäre, das Verhalten eines Gefolterten zu beurteilen. Die Sache wurde mit einem Tabu belegt. Ihr habt die ureigenen Terrormethoden der Diktatur übernommen. Danach war die Reihe an Jacques, der auch unter der Folter gesungen und danach die Führung aufgesucht hat, um sie zu warnen. Drei Hinrichtungen. Als ihr im Juni 1973 Jacques exekutiert habt, waren bereits zwei Jahre vergangen seit den Verhaftungen, die unser Ende eingeläutet haben.
    Und du gehst nach Paris und erzählst, es gebe die Organisation nicht mehr. Du hast es dir verdammt einfach gemacht. Natürlich gibt es die Organisation nicht mehr. Schon seit drei Jahren nicht mehr. Aber was sollen wir mit den Papieren machen? Alles verbrennen? Wie das alles schützen? Und wie verhindern, dass sie uns umbringen, auch wenn wir auf sämtliche Kontakte verzichten? Selbst um ihre Existenz zu beenden, muss die Organisation existieren, so groß ist die Entschlossenheit des Repressionsapparats, uns alle spurlos verschwinden zu lassen. Wir wissen aus dieser Falle keinen Ausweg mehr.
    Dies ist die letzte Nachricht, die ich dir zukommen lasse. Es ist möglich, dass ich und meine Partnerin schon tot sind, wenn du sie erhältst. Wir spüren, dass der Ring sich immer enger zusammenzieht. Versuch nicht, in Erfahrung zu bringen, auf welchem Weg dieses Schreiben zu dir gelangt ist und hebe es nicht auf. Das Beste ist, du zerstörst es, nachdem du es gelesen hast. Ich habe den wenigen Companheiros, die noch übrig sind, eine Kopie mit der gleichen Anweisung gegeben.
    Rodriguez

    In Barro Branco
    »Was gelten tausend Tote am Tag?
Stirb endlich, beende deinen Kampf in Frieden.«
H. N. Bialik
    K. kennt die Kaserne seit mehr als fünfzig Jahren. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass er dort hineingehen und den politischen Gefangenen Zigaretten bringen würde. Zur Zeit seiner Ankunft in Brasilien war es eine kleine Garnison mit Gestüt gewesen. Dort züchtete die Força Pública ihre Polizeipferde, die prächtigen Füchse mit dem rötlichen Fell. Als Straßenhändler fuhr K. fast täglich mit seinem Pferdekarren die ungepflasterte Straße entlang, die gegenüber der Garnison an der Koppel vorbeiführte. Er hatte einige der Soldaten und den Kommandanten, Leutnant Júlio, kennengelernt.
    Damals gab es noch keine Läden wie heute, und der Bus, der ins Stadtzentrum fuhr, verkehrte nur auf der Avenida Cantareira, der einzigen Asphaltstraße. Die Frauen schätzten die Besuche des Straßenhändlers mit seinen schönen Stoffen, Blusen und Nachthemden, die er ihnen auf Raten verkaufte. Diese Kundschaft faszinierte ihn; die Obstgärten mit den Jabuticaba-Bäumen, die Portugiesinnen in ihren Gärten voller Staudenkohl, die Mulattinnen; in Polen hatte er noch nie eine Mulattin gesehen. Er hörte sich die Geschichten der Frauen an, und es machte ihm nichts aus, wenn sie nichts kauften.
    Beladen mit Kohlblättern und Bananenbüscheln kehrte er zurück. Kaum hatte er die Stute abgesattelt, besprach er mit seinem älteren Bruder, der im Nachbarhaus wohnte, die aufregenden Ereignisse des Tages, die unterschiedlichen Menschen, die er kennengelernt hatte. Danach schrieb er etwas darüber auf Jiddisch und veröffentlichte es in den jiddischen Zeitungen in São Paulo, Buenos Aires und sogar in New York. So wurde er bei den Juden im Stadtteil Bom Retiro bekannt. Einer davon vermittelte ihm einen Geschäftspartner mit etwas Geld, damit sie einen Laden eröffnen konnten. K. brachte die Kundschaft mit ein.
    Inzwischen gab es schon mehr Asphaltstraßen. Jetzt kamen die Kunden zu ihm in den Laden. Sie verglichen den K. aus der Zeit vor dem Verschwinden der Tochter mit dem K. danach und fühlten mit ihm. Früher hatte K. ihre Geschichten hören wollen. Nun waren sie es, die sich sein Klagelied anhören mussten. Einer von ihnen, der Feldwebel Ademir, dessen Familie zu K.s alter Kundschaft gehörte, verriet ihm, dass in das Gefängnis der APMBB, der Akademie der Militärpolizei von Barro Branco, politische Häftlinge
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