Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
Vom Netzwerk:
Brasilien angekommen war, voller Neugierde, hatte er alles verstehen wollen. Danach hatte er sich mit den Gegebenheiten abgefunden. Bis das geschah, was geschehen war.
    Rua Fernão Dias, steht auf dem Straßenschild. Da, wo er wohnt, in São Paulo, gibt es auch eine Straße mit diesem Namen, man hatte ihm erzählt, das sei ein berühmter Jäger von Indianern und entflohenen Sklaven gewesen. Sie fuhren einige Straßen entlang, deren Namen ihm nichts sagten. Dann tauchte zu K.s Überraschung eine Avenida General Milton Tavares de Souza auf.
    Er wusste ganz genau, wer das war: Diesen Namen würde er nie vergessen. Der Sohn des Apothekers hatte ihn erwähnt. Kardinal Dom Paulo Evaristo Arns ebenfalls. Es handelte sich um den Gründer des DOI-Codi, wo sie den Journalisten Vladimir Herzog hingebracht und ermordet hatten. Der General war der Lawrenti Berija dieser Verbrecherbande, der brasilianische Himmler, er pflegte zu sagen, dass, um subversive Elemente umzubringen, jedes Mittel recht sei; und nach ihm sind Straßen benannt. Hauptstraßen. Wie war das nur möglich? Ein niederträchtiger Mensch, »a menuvldiker retseyekh«, fluchte er auf Jiddisch.
    Voller Empörung nahm K. nun jedes Straßenschild in Augenschein und regte sich über den Namen des Präsidenten Costa e Silva an der Brücke Rio-Niterói auf. Unglaublich, ein majestätisches Bauwerk wie dieses, fast neun Kilometer lang, trägt den Namen des Generals, der den AI-5, das Ermächtigungsdekret, erlassen hat. In Polen erhielten die Straßen die Namen von Königen und Marschällen, überall liest man Pilsudski und Marszalkowska, doch der war verantwortlich für die Vereinigung Polens, ein Held, kein niederträchtiger Schurke. Man stelle sich einmal vor, in Deutschland würden sie eine Straße nach Joseph Goebbels benennen oder in den Vereinigten Staaten eine nach Al Capone; oder in Litauen würden die Litauer den Henker Murawjow ehren, indem sie einer Straße seinen Namen geben.
    Das Problem, überlegte K., entsteht, wenn eine Person für die einen ein Held und für die anderen ein Schurke ist, wie Bohdan Chmelnyzkyj, der die Pogrome in der Ukraine angeführt hat und für die Ukrainer ein Held ist, wahrscheinlich genau aus diesem Grund; es gibt sogar Städte mit seinem Namen. K. war entrüstet. Im Geiste fluchte er immer noch, als sie im Zentrum von Rio de Janeiro die große Avenida Getúlio Vargas erreichten. Der war ein ziviler Staatspräsident. In der ersten Zeit in Brasilien hatte K. sogar Sympathien für ihn – den Vater der Armen – empfunden. Aber er war ein Diktator, und Filinto Müller, seinem Polizeichef, klebte Blut an den Händen. Er hatte viele Menschen gefoltert und ermordet. Es fehlte nur noch eine Straße auf den Namen Filinto Müller. Wer weiß, vielleicht gab es sie bereits irgendwo, dachte K.
    Wie war es möglich, dass er nie nachgedacht hatte über diese sonderbare Angewohnheit der Brasilianer, Verbrecher und Folterer und Putschisten zu ehren, als seien sie Helden oder Wohltäter der Menschheit. Er hatte so viel über die Lebensweise der Brasilianer geschrieben, aber das war ihm nicht aufgefallen. In anderen Ländern geschieht heutzutage das Gegenteil. In Warschau haben sie den Namen der traditionellen Ulica Gesia durch Anielewicza ersetzt zum Gedenken an den Helden des Aufstands im Ghetto. Es stimmt, sie haben den Namen dieses Faschisten und Verräters Roman Dmowski an einem runden Platz mit Kreisverkehr beibehalten, aber das wird sich sicher ändern. Die Franzosen, hatte er in der Zeitung gelesen, fangen an, den Straßennamen «Pétain« zu entfernen, nachdem sie entdeckt haben, dass er nach der Okkupation die Genehmigung für die Deportation von sechsundsiebzigtausend Juden einschließlich elftausend Kindern in die Vernichtungslager erteilt hatte. Nur dreitausend hatten überlebt.
    Im Bus nach São Paulo beruhigte K. sich ein wenig; die wichtigste Autobahn des Landes heißt Via Dutra, und Dutra war, soviel man weiß, ein demokratischer Präsident, obwohl er auch General und Antisemit war. Er entzog den kommunistischen Abgeordneten das Mandat und erschwerte die Einreise von jüdischen Kriegsflüchtlingen, nicht aber die der Volksdeutschen. Aber er hat weder Menschen umgebracht noch verschwinden lassen, soviel man weiß.
    Als sie sich São Paulo näherten, fuhr der Bus unter einer Brücke durch, an der ein Schild mit dem Namen Viaduto General Milton Tavares prangte. Wieder dieser Verbrecher. K. war schon oft unter dieser Brücke
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher