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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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fünfzig Jahren kämpft, Siege errungen und Niederlagen erlitten hat, Kinder und Enkel hat; etwas anderes ist ein zwanzigjähriger junger Mann, der sein Leben noch vor sich hat, der von nichts eine Ahnung hat. Der Alte trug diesen Namen nicht von ungefähr. Er hat Fehler gemacht. Nach dem Tod von Mariga hätte er allen die Wahl lassen sollen, die Organisation umgehend zu verlassen. Es waren weder objektive noch subjektive Bedingungen für einen Rückzug ins Landesinnere gegeben. Irgendjemand hätte den Befehl erteilen müssen, das Ganze zu stoppen. Und dieser Jemand war der Alte, und das war der richtige Zeitpunkt.
    Was mir heute am meisten zu schaffen macht, ist unser fortschreitender Verlust des Gesamtüberblicks, dass wir das Ganze aus den Augen verloren haben. Und da wir das Ganze nicht gesehen haben, haben wir auch die Beziehungen zwischen den Teilen, die Widersprüche, die Grenzen nicht gesehen. Wir sind blind geworden; vollkommen entfremdet von der Wirklichkeit, verblendet durch den bewaffneten Kampf.
    Wie du weißt, war Mariga der große Anführer, derjenige, der die Linie vorgab, aber das Bindeglied war der Alte, er beteiligte sich nicht an den Taktischen Einsatzgruppen, war aber derjenige, der alles zusammenfügte. Nachdem er gefallen war, hatte es überhaupt keinen Sinn mehr weiterzumachen. Wir haben Márcio gebeten, das dem Kommando mitzuteilen. Die Antwort war die Ablehnung unseres Vorschlags, ohne ein Gegenargument, ohne eine neue Orientierungslinie. Bar jeder Verantwortung.
    Als der Alte nach Kuba ging, um nach Marigas Tod die Lage mit den Companheiros zu besprechen, wurde klar, dass der bewaffnete Kampf sich erschöpft hatte. Es war die Rede vom Wiederaufbau der politischen Aktion, davon, in die Fabriken zu gehen, das Modell der kubanischen Revolution, das keine Lösung für Brasilien war, abzulehnen. Zaratini hat es in dem Dokument, das an die Landesführung ging, klar dargelegt, viele von uns ebenso. Als Reaktion auf die Brutalität des Repressionsapparats waren die Dissidenten für die Demobilisierung, das Untertauchen, das Sich-in-Luft-auflösen. Aluysio hat ihm das auch in Paris gesagt, es sei an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Viele haben darauf hingewiesen. Aber er beharrte auf seiner Position. Er erfand den Ansatz der taktischen Stadtoffensive, um das Feuer nicht zum Erlöschen zu bringen und gleichzeitig ländliche Stützpunkte für einen langfristigen strategischen Kampf vorzubereiten. Immer die gleichen hochtrabenden Worte, Taktik und Strategie, doch völlig losgelöst von der Realität.
    Und er war es auch, der die These des Verrats in Umlauf brachte. Dass es einen Verräter gebe. In Wirklichkeit gab es mehr als einen, wie wir heute wissen. Seine These schien durchaus plausibel, nicht weil es Beweise oder konkrete Fakten gab, sondern aufgrund der wiederholten Niederlagen. Sie wurde zu einer Obsession, einem Ersatz für die Analyse der Wirklichkeit; zu einem Druckmittel gegen diejenigen, die auf einmal unentschlossen waren. Anstatt als Frage der Sicherheit wurde sie als Frage der Ideologie behandelt. Schlimmer noch, als Frage der Moral, so als sei geschnappt werden gleichzusetzen mit Verrat begehen.
    Du warst der wichtigste Teilnehmer des Treffens, auf dem beschlossen wurde, Márcio zu liquidieren, weil man annahm, er sei der Verräter. Die letzten Festnahmen beweisen, was wir schon vermutet hatten: Márcio war nicht der Informant. Er wurde hingerichtet, weil er einen Antrag bei der Koordinationszentrale eingereicht hatte, ihn gehen zu lassen. Die Organisation hat in dem Kommuniquá gelogen. Márcio wurde nicht hingerichtet, um die Organisation zu schützen. Er wurde hingerichtet, um ein Zeichen zu setzen: Wer schwankt, wird als Verräter verurteilt. Er hatte keinerlei Verbrechen begangen. Niemanden verraten. Er wurde verurteilt, weil er der Organisation den Rücken kehren wollte. Was erklärt, dass Milton sich dagegen ausgesprochen hat.
    Anstatt Márcios Bitte nachzukommen, ihn gehen zu lassen, hast du dich dagegen ausgesprochen und das Einstellen dieses bereits verlorenen Kampfes damit vereitelt. Wir hätten viele Menschenleben retten können. Das war es, was wir hätten tun müssen. Auch weil Tavares, der den Alten ans Messer geliefert hat, nicht der einzige Informant war. Es gibt mindestens einen weiteren, der versucht, die alten Stützpunkte ausfindig zu machen und uns zu identifizieren.
    Sogar in der kapitalistischen Justiz wird nicht zum Tode verurteilt, wenn keine
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