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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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lässt. Es war sein eigener Blick fünfzig Jahre früher.
    Der Feldwebel erklärte, dass die Gefangenen durch einen Hungerstreik eine bessere Behandlung erstritten hatten, sie konnten sich frei in dem Gebäude bewegen, hatten eine gemeinsame Kantine organisiert, bekamen Unterricht und vieles mehr. Viele von ihnen waren Lehrer. Nach dieser Erläuterung ging der Feldwebel.
    Sie bildeten einen Sitzkreis. K. setzte sich dazu. Er stellte seine Tasche auf den Boden und begann sogleich, seine Geschichte zu erzählen, die er schon so oft wiederholt hatte. Aber es war so, als erzählte er sie zum ersten Mal. Er sah den einen Gefangenen an, dann den anderen. Sein Redefluss war holprig. Zwischendurch rutschten ihm jiddische Wörter heraus. Wie einen Refrain wiederholte er, mayn tayer tekhterl – mein liebes Töchterchen. Er merkte, dass seine Aussprache wieder wie damals, in seinen ersten Brasilientagen, klang.
    Schweigend hörten die Gefangenen zu. Den Blick unentwegt auf K.s brennendes Gesicht gerichtet, wie hypnotisiert von seinen rotgeschwollenen, tränenden Augen. Viele von ihnen sollten diesen Augenblick nie mehr vergessen. Das Leid des Alten rührte sie an. Einer von ihnen, Pedro Tierra, sollte Jahrzehnte später schreiben, »die verwitterte Gestalt eines alten Mannes, aufrecht gehalten von zwei Augen – zwei Flammen –, der Verkörperung der Verzweiflung«. Einige von ihnen hatten K.s Tochter und ihren Mann gut in Erinnerung, hatten der gleichen Untergrundorganisation angehört; alle kannten sie die Geschichte, einschließlich des Namens dessen, der sie verraten hatte. Sie wussten, dass sie schon lange tot war.
    Plötzlich brach K. in Tränen aus. Die Gefangenen verfielen in Schweigen. Manche bekamen feuchte Augen. K. beugte sich nach vorn und schlug die Hände vors Gesicht. Es gelang ihm nicht, das Schluchzen zu unterdrücken. Er hatte zu nichts mehr Kraft. Er fühlte sich unglaublich müde. Da neigte er sich noch ein wenig mehr nach vorn und versuchte, die Zigarettenstangen und die Schokoladentafeln zu verteilen, die sich in der Tasche auf dem Boden befanden, vielleicht, damit das Weinen schneller verging.
    In diesem Augenblick fiel er um.
    Erschrocken sprangen die Gefangenen, die ihm am nächsten saßen, auf. Ohne die Zigarettenstange loszulassen, die er jetzt fest mit der linken Hand umklammert hielt, streckte K. sich auf dem Boden aus. Sein Atem ging schwer. Drei Gefangene schoben die Hände unter seinen Rücken, hoben ihn vorsichtig hoch und trugen ihn in dieser Stellung in die Nebenzelle, wo sie ihn auf eine der Pritschen legten.
    Nach Luft ringend, hielt K. fast zehn Minuten lang die Augen geschlossen. Er keuchte. Dann schlug er die Augen auf und gewahrte die politischen Häftlinge um sich herum; hinter ihnen, oben an der Rückwand, sah er das wohlbekannte kleine Gitterfenster der Zelle, das Sonne und Freiheit versprach und von draußen hereinließ. Er fühlte sich in Frieden. Sehr müde, doch in Frieden. Er hielt den Gefangenen die Zigarettenpackung hin. Dann öffnete er die Hände und schloss die Augen.

    Postskriptum
    Drei Jahrzehnte und etwas mehr sind nun schon vergangen. Vor zwei Monaten klingelte plötzlich hier in diesem Haus das Telefon und es wurde nach diesem meinem Sohn verlangt, der seine entführte und ermordete Tante nicht gekannt hat; es meldet sich eine Frauenstimme, sie stellt sich vor, nennt Vor- und Nachnamen, wohnt in Florianópolis. Sie sei vor kurzem aus Kanada zurückgekehrt, erzählt sie, wo sie Verwandte besucht habe, und während sie sich in einem Restaurant auf Portugiesisch unterhielten, sei eine Dame an sie herangetreten, habe sich als Brasilianerin vorgestellt und ihren vollständigen Namen genannt, den Namen der verschwundenen Tante. Die Frauenstimme hinterließ ihre Telefonnummer für weitere Kontakte.
    Ich habe nicht zurückgerufen. Mir fielen die ersten Monate nach dem spurlosen Verschwinden ein; immer, wenn wir an einem sensiblen Punkt des Systems angelangt waren, erreichten uns die falschen Hinweise auf ihren Aufenthaltsort, die das Ziel hatten, uns kleinzukriegen und zu demoralisieren. Dieser Anruf – folgerte ich – ist eine Reaktion auf die vor wenigen Monaten von der OAB, der Brasilianischen Rechtsanwaltskammer, im Fernsehen verbreiteten Nachricht, in der die Umstände ihres Verschwindens von einer Theaterschauspielerin dargestellt wurden. Der Telefonanruf der vermeintlichen brasilianischen Touristin kam aus dem Repressionssystem, das unterschwellig noch aktiv
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