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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Autoren: Transit
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überführt worden waren. Eine Gruppe von ungefähr dreißig, sagte er. Vielleicht weiß ja einer von denen, was passiert ist? Der Kommandant, Oberst Aristides, war sein Schwager, vielleicht erlaubte er ja dem Alten, die Gefangenen zu besuchen, mit ihnen zu reden.
    Obgleich die Hausordnung es nicht vorsah, erteilte der Kommandant die Erlaubnis, da K. mit keinem der Gefangenen verwandt war. Und da stand er nun, ein Beklommenheitsgefühl in der Brust, an einem heißen Samstagnachmittag, mit seinen Zigarettenschachteln und Schokoladentafeln. Große Bauten, die er nicht kannte, nahmen einen Teil der alten Koppel ein. Das dort ist das Krankenhaus der Militärpolizei, erklärte Feldwebel Ademir, der ihn begleitete, und zeigte auf ein mehrstöckiges Gebäude.
    Die Haftanstalt lag weiter hinten, fast am Ende des großen Hofes. Es handelte sich um das eigene Gefängnis der Militärpolizei – erklärte der Feldwebel –, wo die straffällig gewordenen Polizisten saßen. Ein halbwegs isolierter Seitentrakt war für die politischen Häftlinge abgetrennt worden.
    Bei jedem Schritt in die Richtung dieses Seitentrakts machte K. im Geiste einen Schritt zurück in die Zeit, in der er selbst in Polen im Zuchthaus gesessen hatte. Er erinnerte sich, wie sie ihn angekettet durch die Straßen von Wloclawek geschleift hatten, um ihn vor den Geschäftsleuten zu erniedrigen. Auch jetzt schleppte er sich dahin, gebrechlich, wenn auch nicht angekettet. Er fühlte sich sehr müde. Vierzehn Monate waren seit dem Verschwinden seiner Tochter vergangen.
    In Brasilien hatte er sich der gleichen zionistischen Partei angeschlossen, deren Mitbegründer er in Polen gewesen war – was ihm in seiner Jugend zwei Gefängnisaufenthalte eingebracht hatte –, doch er kümmerte sich fast nur um kulturelle Angelegenheiten, um die Pflege der jiddischen Sprache. All das, was er in diesen fünfzig Jahren gemacht hatte, war nichts anderes als eine Selbsttäuschung gewesen – so sah er es heute. Seine Bücher, seine Novellen, seine Erzählungen, seine Faszination gegenüber diesem Land am Ende der Welt, das letztendlich seine Tochter verschlungen hatte.
    Er empfand den vorzeitigen Verlust der Tochter als eine Strafe, weil sein Herz immer für die Literatur geschlagen hatte, für die befreundeten Schriftsteller. Der älteste Sohn hatte sich bald von ihm abgewandt. Er hatte sein Elternhaus früh verlassen und sich nie mit seinem Vater ausgesöhnt. K. war nicht klargekommen mit seiner Aufmüpfigkeit, mit seinen Streichen in der Schule. Der andere Sohn war angepasst, aber verschlossen; er sprach wenig und war auch früh ausgezogen.
    K. hatte seine Zuneigung der Tochter geschenkt. Alles, was er den zwei Söhnen und seiner krebskranken Frau nicht gegeben hatte, kompensierte er über die Tochter. Aber jetzt begreift er, dass diese Vorliebe für seine Tochter bereits eine Falle des Schicksals war, der Lauf der Tragödie, die dazu geführt hatte, dass er sich zunächst noch enger an seine Tochter band, nur, um sie danach zu opfern.
    K. klammerte sich mit aller Kraft an seine Tasche mit den Zigarettenstangen und Schokoladentafeln. Sie näherten sich dem abgetrennten Seitentrakt, wo die politischen Häftlinge untergebracht waren. Die Sonne machte ihm zu schaffen. Mit der linken Hand zog er ein Taschentuch aus der Tasche und trocknete sich die Stirn. Dabei fiel ihm der heiße Frühling in Polen ein, als seine Mutter ihm zu Pessach das Essen ins Gefängnis gebracht hat. Sie waren zehn Geschwister, die alle an der Armutsgrenze lebten, aber die Mutter, unermüdlich, hat es sich nie nehmen lassen, ihm an den Besuchstagen ein Brot oder an den Feiertagen ein gekochtes Ei, ein besonderes Essen mitzubringen.
    In jenem polnischen Gefängnis hatte er entdeckt, wie wichtig Zigaretten und Schokolade waren. Die hatte er jetzt dabei, für die Gefangenen in Barro Branco. In seiner Tasche hatte er seinen Ausweis, seine Erinnerungen, seine Abrechnungen; ein Lebenszyklus schloss sich, das Ende berührte den Anfang und dazwischen war nichts, fünfzig Jahre nichts. K. fühlte sich sehr müde. Die Beine machten schlapp, ihm war schwindlig. Auf den Arm des Feldwebels gestützt, erreichte er den Flachbau.
    Die Gefangenen erwarteten ihn bereits; alles Männer, die meisten jung. Sie waren ordentlich gekleidet, das Gesicht rasiert. Doch K. erriet aufgrund ihres abgestumpften Gesichtsausdrucks, dass sie seit langer Zeit eingesperrt waren. Er kannte diesen Blick, der sich mit keinem anderen vergleichen
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