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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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bekommt ein Licht zwischen die Augen geklebt. Laser oder LED. Ein weißes am besten. Und wir sehen nur diese Lichter hinauf- und hinuntergehen   …
     
    Melina sah, dass etwas von der Bühne fiel. Es rollte neben dem Orchestergraben an der Wand entlang – hinter den Sitzreihen kaum auszumachen. Dann schlug es die Reihe ein, in der Melina saß. Ein dunkles, schnelles Knäuel. Auf dem Nebensitz richtete es sich auf und wurde zu einer kleinen Frau mit schulterlangen roten Haaren.
    »Pia«, wisperte die Frau und reichte Melina die Hand.
    Abchecken durch Berührung, kein Händeschütteln.
    »Was willst du von Jenissej?«, flüsterte sie. Nicht unfreundlich, aber bestimmt. Sie hatte einen leichten Unterbiss, das vorgeschobene Kinn verunstaltete aber ihr Gesicht nicht. Es wirkte interessant und lebendig. Vor allem durch die hochbogigen Nasenflügel sah es so aus, als stünde diese Frau ständig unter Strom. »Nun?«
    »Seine Tochter Lena ist verschwunden.«
    »Was weißt du von ihr?«, fragte Pia, noch immer Melinas Hand haltend.
    Ihre großen Augen. Eine Schweizerin.
    »Ich weiß nur, dass sie weg ist. Sie hatte einen Termin bei mir im Institut und ist nicht gekommen. Stattdessen hat sie mir eine Datei gemailt, mit der ich zunächst nichts anfangen konnte. Eine Freundin brauchte eine Woche, um die Nachricht zu öffnen. Aber ich verstehe gar nichts von dem, was ich da sehe. Vielleicht kann ihr Vater etwas damit anfangen.«
    »Psss   … «, machte Pia und ließ die Hand los, um sie Melina auf den Arm zu legen. »Ich sage ihm Bescheid. Aber im Moment entwickelt er ein neues Stück. Ich hoffe auf den Durchbruch. Sonst geht diese Leidenszeit ewig weiter.«
    Melina sah, wie ihre eigenen Finger trommelten. Es ging um Lena. Trotzdem war sie neugierig. »Was für ein Stück wird das? Entschuldigung, aber mir sagt   … Jenissej nichts.«
    Pia zog die Augenbrauen hoch. »Nein? Kennst du den
12.   September?
Du bist nicht an Kunst interessiert?«
    »Doch, aber   … « Melina sah erst jetzt, dass die Frau deutlich älter war als sie. Die großen Augen und die helle Stimme täuschten, sie hätte ihre Mutter sein können. Mindestens.
    »Jenissej ist der bekannteste Medienchoreograph«, sagte sie mehr nachsinnend als vorwurfsvoll. »In Europa. Nein, weltweit.« Ihr Blick bekam etwas Schelmisches. »Du wohnst in Berlin – und hast vom
12.   September
nichts mitbekommen? Ist ja unglaublich!«
    Übertreiben muss sie ja nun auch nicht.
    »Ich weiß nicht mal, was ein Medienchoreograph ist.«
    »Aber der 11.   September sagt dir was? 2001? New York? Die zerstörten Türme? Jenissej hat das für ein Stück verfremdet. Bei ihm fliegen Kirchen und Moscheen und Synagogen in die Luft. Ein kleiner Skandal.« Sie freute sich.»Und jetzt sucht er neuen Stoff. Ihn fasziniert der Terror
im
Alltag,
weißt du. Wie Leute sich anrempeln. Oder sich aggressiv die Vorfahrt nehmen, weil   … weil sie   … sich nicht kümmern, irgendwie.«
    Melina nickte. »Verstehe. Die allgemeine Ignoranz.«
    »Nee, nich
Ignoranz
  … Ignoranz? Na ja, gut, vielleicht hat das mit
Ignoranz
zu tun, ja.« Sie schaute Melina verwirrt an, lächelte und hauchte: »Ich sag ihm, dass du da bist und dass du dir Sorgen um Lena machst. Warte ein paar Minuten, ja?«
    Melina blickte demonstrativ gleichgültig.
    Pia hatte sich aber schon davongeschlichen. War irgendwie auf die Bühne gelangt, wo sie sich eine herabhängende Longe griff. Als wäre es eine Liane, pendelte sie daran und ließ sich weit in den hinteren Bühnenraum schwingen, wo sie vor Jenissej eine Rolle vorwärts vollführte und kerzengerade stehenblieb, schon mit der Hand an seinem Ohr.
    Sie traten beide einen Schritt weiter in den Bühnenhintergrund und damit ins Dunkel. Melina hörte ihn zweimal etwas laut ausrufen, das sie aber nicht verstand. Pia rief einmal: »Jetzt komm!«
    Melina rutschte auf ihrem Zuschauersitz herum.
    Schließlich trat Jenissej aus dem Schatten und kam auf den Zuschauerraum zu. Während er ging, schien er sich zu verwandeln: Er begann als ein vorsichtiger Mann, der dem Bretterboden so wenig zu trauen schien wie ein Polarforscher dem Eis am Nordpol. Die Metamorphose machte aus ihm einen Offizier, der entschlossen schritt, nur leicht einseitig auftretend wegen des schweren Säbels am Portepee. Kurz vor dem Bühnenrand wurde Jenissej der erste Mensch, der sich in der Steppe einem Feuer näherte.
    Melina runzelte die Stirn.
    Jenissej setzte sich blitzschnell auf den Rand der Bühne,
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