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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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die Beine im Orchestergraben, und schon wieder war er ein Anderer. »So!«, rief er und warf den Arm zur Deklamation nach vorn. »Hier also bin ich! –
Ignoranz.
– Ig-no-ranz!« Mit einer Minimalgeste winkte er sie zu sich.
    Melina überlegte, ob sie durch die Reihe laufen oder einfach über den Vordersitz klettern sollte.
    Inzwischen war Jenissej in der ersten Reihe. Und sie kletterte.
    Er streckte die Arme aus wie bei einer alten Bekannten. Offenbar war er einen halben Kopf kleiner als sie. Leicht gedrungen. Aber was andere Männer seines Alters an Umfang des Bauches hatten, war bei ihm in die Brust gerutscht. Ein kleiner, kraftvoller Mann. »In meinem   … «, begann er langsam und tieftönig und setzte eine Oktave höher und explosionsartig fort: »
neuen
Stück   … « Er umarmte sie. »   … geht es um
Ignoranz

    Sein hellgraues Hemd war durchgeschwitzt. Aber anders als Melina annahm, roch er nach frischem Tabak. Und Schilf. Die Umarmung war angenehm.
    Er drückte sie sanft auf den Sitz der ersten Reihe, um sie von oben zu betrachten. »Seit eben weiß ich, dass ich
Ignoranz
inszenieren werde. Und du   … « Die Hand schien ihre Wangen tätscheln und das Kinn umfassen zu wollen, sie führte die Bewegungen aber in zentimeterweitem Abstand aus, schwebte vor ihrem Gesicht.
    Melina
hatte das Gefühl, die Wärme zu spüren.
    »Du, jung, rote Bluse   … Schwarze Haare   … – Name?«
    »Melina«, sagte sie im Reflex und hätte beinahe
Lena
gesagt, weil sie endlich über Lena sprechen wollte.
    Er schüttelte den Kopf. »
Melpomene.
Ja, die vom Himmel gesandte Melpomene!«
    »Ich bin ja keine Muse   … «
    Er lächelte. Es waren tiefe Falten, die von den Wangen an den Mundwinkeln entlangzogen, und sich zu einem grandiosen Lächeln glätteten.
    »   … schon gar keine Tragödin.«
    Jenissej sah ihr in die Augen. »
Ignoranz
ist keine komische Sache. Ignoranz tötet. Und außerdem siehst du traurig aus, Melpomene.«
    Ich? Traurig?
    »Ja, ich komme wegen Ihrer Tochter. Sie ist   … «
    Er gebot ihr mit der Hand Einhalt. »Stell dich hin. Locker. – Noch lockerer. – Aha. – Heb den rechten Arm und zeige auf eine Stelle im Raum! – Den
rechten!«
    »
Entschuldigung.«
    »Gut. Komm mal auf die Bühne.« Er war neben ihr und fasste sie mit beiden Händen um die Taille. »Spring!«
    Im Sprung ließ er sie los und gab ihr mit der Hand mächtig Schub auf den Hintern, so dass sie den – zugegeben, nicht sehr breiten – Orchestergraben mit Leichtigkeit überwand.
    »Du bist beweglich«, sagte er. Sprang aber viel leichter und müheloser und aus dem Stand heraus über den Graben zu ihr. Ohne Geräusch.
    Er drückte ihr sanft die Hand ins Kreuz: »Schon mal getanzt?«
    »Nein. Allenfalls Ballett, auf der Grundschule.«
    Er lächelte breit und warm. »Na also.« Sofort stellte sein Gesicht wieder von warm auf kalt, und er tippte ihr auf den linken Oberschenkel. »Los!
Dégagé à la quatrième devant!«
    Sie stellte den linken Fuß auf die Spitze.
    »Derrière«
, flüsterte Jenissej, und sie wechselte reflexartig auf den rechten Fuß.
    Wieso kann ich das noch?
    »An der Haltung musst du arbeiten.«
    »Ich   … Es geht um Ihre Tochter.«
    »Einen Moment. – Zeig mir einen
lay out. Whole flat
back,
Melpomene!«
    Melina zuckte mit den Schultern.
    Er beugte ihren Oberkörper nach vorn. »Drück das linke Bein durch. Das rechte im rechten Winkel hoch. Die Arme nach außen, als ob du fliegen willst   … « Er fasste ihr in der Luft schwebendes Fußgelenk, brachte die Arme in Position, drückte ihren Rücken herunter. »Flacher!« Dann ließ er los und ging einen Schritt zurück. »Jazz Dance gemacht?«
    »Nein«, sagte sie gequält in ihrer Stellung. »Unterrichten Sie das?«
    »Nein. Aber einige Jazz-Dance-Lehrer tanzen in meinem Ensemble.«
    Er ließ sich aus dem Stand in den Schneidersitz fallen. Dann schlug er mit der Hand auf die Holzdielen vor sich.
    Melina setzte sich zu ihm, so schnell sie konnte.
    »Was ist mit Lena?«, fragte er.
    »Ich mache mir Sorgen. War sie bei Ihnen in der letzten Woche, hat sie sich gemeldet?«
    »Bestimmt seit zwei Wochen nicht. Lena kann kommen und gehen, wie sie will. Sie hat ihren Schlüssel und ihr Zimmer. – Warum machst du dir Sorgen, Melpomene?«
    »Ich bin ihre Betreuerin am
Institut Zucker

    Sein undurchdringliches Gesicht plötzlich. »Weiter«, sagte er freundlich.
    »Sie hat mich oft versetzt. Aber diesmal sollte und wollte sie unbedingt eine eigene
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