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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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braucht.«
    Melina schloss die Augen, um sich zu beherrschen. Aber auch, weil sie wusste, dass sie auf diese Weise entschlossener wirkte. »Ich bin mir sicher, dass Lena normalerweise hier lebt.«
    »Jenissej probt. Keine Chance! Gib mir deine Telefonnummer, dann ruft er dich eventuell zurück.«
    »Jenissej? Lenas Vater heißt – Jenissej?«
    Die Latzhose war pikiert. »Ja. Das alles hier ist Jenissej. Das Theater, die Aufführungen, wir alle.«
    Es begann zu brodeln in ihr. »Dieser tolle Typ hat eineTochter, die verschwunden ist. Eine Vierzehnjährige! Er soll sich verdammt noch mal darum kümmern!«
    »Weißt du   … Mir fällt immer wieder auf: Wenn Frauen wütend werden – das macht sie eher hässlich   … «
    Melinas Zeigefinger schnellte hoch. »Sie haben mich noch nicht richtig hässlich gesehen«, sagte sie mit einem drohenden Unterton. – Der ihr gar nicht schlecht gefiel.
    Beschwichtigend hielt ihr der Inspizient seine Hände entgegen. »Er entlässt mich, wenn ich ihn störe. Aber was hältst du von einem Deal: Ich lasse dich rein, du setzt dich stadtmäuschenstill ins Publikum und gibst keinen Piep von dir, solange er probt. Ich sorge dafür, dass er sich im Anschluss daran an dich wendet. Bitte sag nicht nein, sonst bin ich tot.«
    Beinahe musste Melina schmunzeln. Stattdessen nickte sie knapp.
    Der Mann öffnete das Tor zum Hof und bat sie, ihm zu folgen. Hinter der Ecke sah sie den Anbau, einen einstöckigen Wohntrakt, der nachträglich an das Theater herangepappt worden war, aber immerhin passend in gelben Ziegelsteinen. Das ganze Theater, vormals eine Maschinenbaufabrik, war in diesem Gelb des neunzehnten Jahrhunderts gehalten.
    Von Jenissejs Theater hatte sie noch nie gehört. Aber der Prenzlauer Berg gehörte sowieso nicht zu ihren Vierteln. Wohnen in Charlottenburg, studieren in Zehlendorf, jobben im südlichen Spandau. Ihr Freund in Köpenick, das war eine Ausnahme. Es
war,
diese Ausnahme hatte sich ja inzwischen erledigt.
    Hinter dem Bühnentrakt war eine moderne Stahltür in die Fassade eingelassen. Dahinter passierten sie im Gänsemarsch Versatzstücke aus Holz und Leinwand sowie Reihen von Kostümen, die Melina unter den Schutzfolien nichterkennen konnte. Eine schmale Wendeltreppe, eine noch schmalere Tür – und plötzlich standen sie im Zuschauerraum. Alle Plätze waren leer, sowohl auf der Galerie als auch im Parkett.
    Der Mann deutete in die dritte Reihe, legte den Zeigefinger auf den Mund und verzog sich. Nicht ohne sich prüfend zu ihr umzuschauen.
    Melina nahm Platz und machte sich klein, wobei sie an die Dokumentarfilme denken musste, in denen es um das
Duck-and-cover -Programm
ging, die US-amerikanische Vorbereitung der Bevölkerung auf atomare Angriffe.
    Die Bühne war nur fahl beleuchtet.
    Einzelne leere Flaschen standen auf dem Parkett. Whisky, Cognac und Wodka tippte Melina. Plötzlich kam ein Mann aus dem Hintergrund der Bühne angerannt, torkelte im Lauf, stürzte, rollte zur Seite, streckte sich mit dem Kopf nach unten wie ein Streetdancer, stand wieder auf den Beinen und torkelte erneut, diesmal um eine der Flaschen.
    Der Mann trug ein hellgraues Hemd ohne Kragen und eine schwarze, für einen Tänzer zu weite Hose. Sehr kurze graue Haare. Er tanzte barfuß auf den Holzbrettern.
    Er schien nun hin und her gezogen zu werden, mal von der einen, mal von der anderen Flasche. Kaum einmal, dass er stand oder überhaupt aufrecht war. Mehr hockte er, fiel in sich zusammen, robbte, kroch, krümmte sich, bäumte sich auf und brach zusammen.
     
    Jenissej hatte beide Hände auf dem Boden, ebenso das linke Knie, während das rechte Bein in Sprungposition war – die Haltung beinahe wie die eines Läufers vor dem »Achtung! Fertig! Los!« Erinnerung an Tabak.
    In dieser Haltung entschloss er sich, seine Anspannungzu verstärken, den Ärger, den Missmut über die Richtungslosigkeit, all den Müll der Unfähigkeit, aus seinem leuchtenden Brustkorb herauszudrücken, es in den Kopf schießen zu lassen und – es über Tränen herauszuspülen.
    Atem anhalten, Bauchdecke. Atmen, Tränendrüsen.
    Plötzlich erbebte sein Körper in einem einzigen Schluchzer. Ein Echo aus der Kindheit. Längst nicht mehr verzweifelt wie damals, sondern nur noch eine Kopie, abrufbar mit Körperbeherrschung.
    Das Stück passt nicht. Die Torkeleien sind gut und schön, aber sie führen mich vom Weg ab. Ich muss das anders aufbauen.
Cambré,
Harfe, Walhalla – und dann?
    Vielleicht Dunkelheit. Jeder Tänzer
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