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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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sie tot waren. Er konnte sich auch an die Schule erinnern. An das Klassenzimmer. Allerdings nicht mehr an das Gesicht des Klassenlehrers. Selbstverständlich wusste er, dass er mit Shirin auf die Havelhöhe gegangen war. Sie hatte ihn von ihren moralischen Bedenken hinsichtlich des Unternehmens
NanoNeutro
wissen lassen. Sie missbilligte das anpasslerische Verhalten ihrer Eltern. Was er nicht mehr rekonstruieren konnte, war, weshalb sie sich geküsst hatten und wie es dazu gekommen war. Aber danach fragte das Computerprogramm nicht. Es gab auch keine Erinnerung an den Anfall, die Einlieferung und die ersten Tage der Dauerbehandlung im Institut.
    Dr.   Harissa hatte es ihm plausibel dargelegt. Die Medikamente waren ursächlich für den epileptoformen Anfall. Das waren die ersten Veränderungen seines Gehirns. Inzwischen stimmte die Dosierung, der Vorfall hatte sich nicht wiederholt. Also war nichts einzuwenden. Alles war schön weiß auf den Bildern, die seinen Kopf abbildeten.
    Die zweite Kategorie von Fragen, die nicht sehr leicht zu beantworten war, betraf die Träume. Er war sich nicht im Klaren, ob diese Frage allen gestellt wurde. Die Frage war nicht schwierig, aber sie war knifflig. Denn er konnte sich an jeden Traum erinnern. An jedes Detail. Vielleicht nicht an die Träume aus seiner Kindheit.
    Da war der schmale Baum im Eis, den er aus unerfindlichenGründen hatte umlegen wollen. Die weiße Wüste und die Ärzte. Der Kreidestaub an der Schultafel. Die Chronologie der Träume blieb unerfindlich, aber jedes Detail war präsent. Inzwischen verstand er die Bilder besser. Manches ließ sich oberflächlich deuten, anderes war assoziiert.
    Dann gab es den Traum mit dem Auftauchen unter der Eisscholle. Das war der letzte. Seitdem hatte er nicht mehr geträumt. Definitiv nicht.
    Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Testreihe 44d!
Das Schild erschien alle paar Stunden einmal. Manchmal grüßte es den Morgen oder verabschiedete diejenigen, die nach Hause fuhren. Diesmal erinnerte es den Teilnehmerkreis an etwas.
Bitte denkt daran, eure Eltern anzurufen.
Habt ihr daran gedacht?
    Das entfällt bei mir, dachte Axel. Aber es ist gut, dass sie daran erinnern. Es ist sehr vernünftig.

Nachwort
    Über das Gehirn werden viele Vorurteile gefällt. Verbreitet ist das Bild eines Wissensspeichers, der sich im Laufe des Lebens füllt. Dementsprechend groß ist die Angst, dass dieser Speicher löchrig wird oder gar auseinanderfällt – durch Alzheimer und andere Demenzerkrankungen.
    Tatsächlich jedoch ist unser Gehirn ein sich mehrfach umbauendes Verschaltungssystem. Dieses Organ passt sich den Herausforderungen an. Ein Säugling ist ganz auf das Überleben und Lernen ausgerichtet, da hat das Gehirn keine Kapazitäten beispielsweise für die Langzeiterinnerung frei. Deshalb können wir uns an unsere ersten Lebensjahre nicht erinnern.
    Schon im Kleinkind-Gehirn werden nicht mehr benötigte »Datenleitungen« nach einer Weile »abgeschaltet« und neue Verknüpfungen aufgebaut.
    Am heftigsten ist der Umbau während der Pubertät zu spüren. Das Hirn geht seine Archive durch und stellt den Nutzen jeder Verbindung in Frage: Ist diese Vokabel noch wichtig für mein Leben? Diese chemische Formel? Was unnütz wirkt, wird gelöscht, ohne dass wir darüber entscheiden. Die Leistungen an der Schule sacken ab, weil das Gehirn wirklich gezielt vergisst. – Vielleicht wäre es manchmal hilfreich, wenn Lehrende, Eltern und die Betroffenen das wissen.
    In der Pubertät werden die vielen kleinen Feldwege und Nebenstraßen des Wissens beseitigt. Sie weichen den Highways, die Höchstgeschwindigkeit versprechen. Doch dieBaustelle ist gigantisch, und wenn überall gebaut wird, kommt man bekanntlich kaum voran.
    Besonders dramatisch ist jene relativ neue Erkenntnis, auf die ich in diesem Thriller eingehe: Der gewaltige Umbau des Gehirns findet zuerst in den entwicklungsgeschichtlich ältesten Arealen statt – und leider erst zum Schluss hin im präfrontalen Kortex. Damit bleibt die Regiezentrale unseres Lebens über weite Zeitspannen der Pubertät unterentwickelt, während andere Fähigkeiten womöglich schon genialisch ausgeprägt sind. Und das verursacht so viel Leiden.
    Ich hoffe nicht auf Entwicklungen wie in diesem Thriller. Denen, die im Baustau der Pubertät stecken, mag ein wenig Nachsicht und Geduld mehr helfen als die Medizin.
    Ein weiteres Vorurteil besagt, dass das Gehirn bereits kartiert und erschlossen sei. Bei allem Respekt vor
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