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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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eine gebogene Wand zu, die Türen glitten zur Seite. »Normalerweise gelangt man über die Freitreppen in das Audimax. Man betritt es von oben. Wir hingegen nehmen jetzt den Backstage-Zugang.«
    Es roch nach Holz.
    Die Sitze strahlten im Sonnenlicht.
    Einige schauten zur Glaskuppel hinauf.
    »Nehmt da drüben Platz.«
    Umständliches Platzsuchen und Gerangel. Obwohl für zwanzig solcher Gruppen Sitzplätze vorhanden waren.
    »Hier im Audimax finden die Rockkonzerte und Orgien statt«, sagte Melina. »Aber ehrlich gesagt: mehr Rockkonzerte. Ab und zu auch langweilige Vorträge. Falls ihr euch langweilen wollt wie an einer Uni, könnt ihr jederzeit herkommen. Das sieht dann etwa so aus   … «
    Sie tippte am Pult auf einen Sensor, woraufhin die Kristalle im Glas der Kuppel auf »Schwarz« umschalteten. An der Projektionswand erschien ein Mosaikbild. Es setzte sich aus Kamerabildern zusammen. Melina wählte eines nach dem anderen und erklärte, was ein Magnet-Resonanz-Tomograph und ein Computer-Tomograph sei, ein Szintograph, ein Einzelphotonen- oder ein Protonen-Emissions-Tomograph.
    »Müssen wir auch in so eine Röhre?«, fragte ein Mädchen.
    »Ab und zu, ja. Das ist aber nur was für starke Nerven. Da drin könnt ihr Musik hören, so laut ihr wollt.« Sie senkte die Stimme. »Und ich sage euch: Ihr werdet einiges erleben, das ihr noch nie erlebt habt. Noch nie.«
    Die Kamerabilder verschwanden.
    »Ihr werdet ein neues Bild von euch bekommen.«
    Man sah einen bunten Menschen. Die Kamera fuhr näher und näher an ihn heran. Knochen blau, Muskeln violett, Adern rosa und rot, Organe gelb und orangefarben. Noch näher: Blutgefäße mit strömender Flüssigkeit.
    Raunen.
    Die Kamera flog über das Brustbein zum Gehirn. Buntes Flimmerspiel, Blitze und Ströme.
    Anerkennendes Lachen.
    »Der Rest wird euch nicht mehr interessieren«, sagte Melina. »Wer will, kann gern schon gehen.«
    Alle saßen auf ihren Sitzen.
    Der bunte Mensch löste sich von der Leinwand und schwebte dreidimensional im Raum. Eine unsichtbare Kraft schnitt ihn horizontal in Scheiben, und die Scheiben klappten auf, so dass man ihm bis ins Rückenmark schauen konnte.
    Und überall floss es in diesem zerschnittenen Körper.
    Ein Arm löste sich vom Rumpf und winkte dem Audimax zu.
    »Das ist mein lieber Freund Henry«, sagte Melina. »Die nächsten Hauptdarsteller seid ihr – falls ihr wollt.«
     
    Melina schaute auf den endlich hochgefahrenen Computer. Im Büro konnte sie sowohl dienstliche als auch private Mails abrufen, aber es gab keine von Lena. Nur zwei Meldungen, für die das Programm den Transport in den Mülleimer vorschlug.
    Die erste versprach schon in der Überschrift ein weltumstürzend neuartiges Potenzmittel, kostenlos und im Doppelpack.
    Löschen und sperren.
    Die andere war eine Mail ohne Text. Sie enthielt ein Dokumentensymbol, das Melina noch nie gesehen hatte. Auf schwarzem Grund war da so etwas wie eine stilisierte Kamera. Sie klickte einmal und noch einmal, aber nichts geschah. Der Name der Datei war »alma«.
    Kenne keine Alma, dachte Melina, hatte aber schon wieder Lenas Bild vor Augen. Zwischendurch versuchte sie es zum x-ten Mal über Handy.
    »alma«. Vielleicht
alma mater,
eine Uni? Oder ein Werbegag? Hat Lena bei ihrer komischen Germanen-Rockmusik, bei diesem
Pagan- Zeugs
nicht so ein Pseudonym gehabt? Ase? Ada? Alma etwa?
    Melina versuchte, das unbekannte Dateiformat mit allen möglichen Programmen zu öffnen. Schließlich klickte und doppelklickte sie nur noch stumpf vor sich hin.
    Mit jedem Klick wurde es kälter.
    Sie wusste, aus irgendeinem Grund, dass sie auf Lena klickte.
    Einen Klick entfernt und doch nicht erreichbar.
    Ihr war jetzt sehr, sehr kalt.

4
    »Ich bin sein Caller«, sagte der Mann, dessen Haare zu einem Zopf geflochten waren. Er trug eine Latzhose.
    Die Idealbesetzung für eine Kindersendung.
    »Es ist mir egal, was Sie sind«, sagte Melina. »Ich muss zu ihm.«
    »Na, sein Inspizient bin ich, sein Spielwart, sein Stage Manager. Außerdem bin ich sein Kartenabreißer, sein Ballett. Und sein Arbeitssklave.«
    »Lassen Sie mich – bitte – zu ihm. Es geht um seine Tochter Lena.«
    »Lena? Sagt mir nichts.«
    »Was? Aber das ist Lenas Adresse. Sie hat mir erzählt, dass sie bei ihrem Vater im Theater wohnt, in einem Anbau hinter dem Übungskeller.«
    »Um sein Privates kümmere ich mich nicht. Meine heilige Pflicht besteht darin, ihm den Rücken freizuhalten, wenn er Ruhe für seine Bühnenarbeit
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