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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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    Bislang waren nur Stechmücken gegen die Scheinwerfer aus Pontresina geklatscht. Nein, eine schwarze Fichtenholzwespe war auch unter den toten Insekten, der Kadaver einer Regenbremse, der Flügel eines Abendpfauenauges, und gerade fing einer der Scheinwerfer in der Dämmerung ein weißes Federgeistchen ein, das sich in den roten und gelben Flüssigkeiten der zermatschten Opfer verklebte. Aber ein Mädchen, ein Mädchen war noch nicht in die Lichter geklatscht. Bislang.
    Auf der Straße nach Forcola di Livigno war sie streckenweise gerannt, mit dem Ziel, die italienische Grenze zu erreichen. Aber was sollte in Italien besser sein? Auf der Straße würde man sie einholen. Also hatte sie Kurs auf die schwarzen Hänge genommen und keuchend den Lej Minor erreicht. Jetzt knickte sie zum dritten Mal mit dem Fuß um, als sie falsch auf einen Stein trat. Stechender Knöchelschmerz. Der Bach kämpfte mit dem Bergweg um die Vorherrschaft. Aber immerhin gab es einen Weg durch das Val Minor.
    Sie versuchte, sich die Bilder der Landkarte in Erinnerung zu rufen. Mündete das Tal gen Norden? Beschrieb es einen Bogen? Öffnete es sich in Richtung Pontresina? Aber immer wieder schoben sich im wadenzerrenden, schnellen Gehen, im Stolpern und Umknicken mit den untauglichen Turnschuhen die anderen Bilder dazwischen. Sie bekam die richtige Reihenfolge dieser Erinnerungen nicht mehr zusammen.
    Noch mal Jan, wie er zitternd nach vorn kippt. Die Kniescheibe auf den Felsboden zu. Jedes Mal wurde das Geräusch lauter. Vielleicht nur in ihrer Rückschau. Sein Körper durchbebt und fällt zur Seite. Was dann kam, konnte sie nicht mehr sehen. Bei jeder Wiederholung versuchte sie herauszubekommen, ob er auch mit dem Schädel aufgeschlagen war.
    Dann: Wie er sich mit Klauen und Zähnen weigert, die Tabletten zu nehmen. Haben ihn regelrecht gezwungen. Festgehalten. Mund auf. Und dann noch eine Spritze von dem Zeug. Das war doch vorher! Das war nicht
nach
dem Sturz, verdammt noch mal, das war vorher!
    Und wie sie in der Hütte steht. Die anderen mit dem Rücken zu ihr. Langsam drehen sie sich um. Starren sie an. Vorwürfe. Warum hast du nicht? Das wusstest du doch. Er braucht seine Medikamente. Du solltest dich darum kümmern. Ihn schützen. Das war hinterher. Aber war das überhaupt passiert? Hatten sie ihr diese Vorwürfe wirklich schon gemacht?
    Ein Unfall war das nicht. Es war die dritte oder vierte Wiederholung von, von   …
    Sie sah sich um und nahm diese seltsam steile Anhöhe. Kaum fünf Meter, aber irgendwie unpassend in dieser Landschaft. Das musste jemand aufgeschüttet haben, künstlich zwischen die Ausläufer des Tals gebaggert. Hier und da waren einzelne Schneeflecken jetzt heller als der Himmel.
    Für die Steigung brauchte sie auch die Hände. Rutschende Steine, glitschig, scharfkantig.
    Während sie sich aufrichtete, sah sie im Augenwinkel die Scheinwerfer.
    Was wollt ihr von mir?
    Aufgerichtet stand sie da. Eine Steinsalzsäule.
    Sie hörte nichts. Doch: Jans Kniescheibe, wie sie in Zeitlupe auf den Felsen schlug.
    Nichts.
    Das Mädchen stand da und hatte die Augen geschlossen.
     
    Sie streckte den Arm aus. Schaute. Berührte den schwarzen Steinbock auf dem Wappen. Das Wappen hing genau in der Mitte, zwischen den Scheinwerfern. Sie berührte das rot lackierte Metall und spürte das Gespinst klebrig-toter Insektenflügel.
    621.   Was soll das? Was heißt 621?
    Die graue Zahl nahm fast ihr gesamtes Gesichtsfeld ein. Voller Mücken und Fliegen, die bei der Fahrt ihr Leben gelassen hatten. Eigentlich ein schönes Schicksal, dachte sie. Dann wär’s wenigstens vorbei.
    Sie sah nach oben. Über der 621 war noch ein dritter Scheinwerfer.
    Und das Gesicht. Blass. Weiß. Der Zugführer der Lok 621 starrte sie an.
    Jemand rief sie.
    Sie stolperte. Plastikgeräusch auf Stein – das Handy, nein, die Kamera war aus der Jackentasche auf das Gleisbett gefallen.
    Das Ding sieht aus wie ein Handy.
    Sie griff danach und rannte weg. Rannte.

2
    Er strich mit dem Daumen über die Stirn des Jungen auf der Pritsche. »BB«, murmelte er.
    Für den anderen klang es nach einer Beschwörung. »Was sagst du?«
    »Nichts. Komm, hilf mir, ihn raufzuheben.«
    »Urs, jetzt sag schon! Hast du
Bébé
zu ihm gesagt?«
    »Ich frage mich, warum wir den Jungen wieder und wieder in die Röhre schieben. Wo es ein Fall von BB ist: Sein Hirn ist nichts anderes mehr als
Bregen-Brei

    Unvermittelt stand Brogli neben ihnen. »Fragen, die Herren?«
    »Nein, Herr
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