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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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Schatten hinter dem Mädchen zusammengekritzelt.
    Für einen Moment dachte sie, das Mädchen habe Lenas Augen. Sie sah auf die Armbanduhr, drehte sich um undhoffte, im weitläufigen Foyer eine heranschlurfende Lena zu sehen. Aber nichts.
    Seit einer Viertelstunde ist sie fällig. Wie hoch und wie heilig hat sie mir versprochen, heute pünktlich zu sein, dachte Melina.
»Ja, ich werde die ganze Gruppe begrüßen und
alles so professionell machen wie du, Melina.«
Von wegen!
»Vertraue mir einfach. Ich kümmere mich um die Gruppe,
mache die Erstbefragungen und alle Tests in den nächsten
Wochen. Was soll ich denn noch machen, damit du mir das
zutraust?«
– Tja, vielleicht einfach mal erscheinen?
    Melina ärgerte sich über ihren Groll. Sie klemmte die Ledermappe unter den Arm und schritt quer durch das Foyer in den Garderobentrakt, wo ein Spiegel bis auf den Boden ging.
    Kommt sich erwachsen vor mit ihren vierzehn. Und was ist sie? Wenn ich gewusst hätte, dass wieder alles an mir hängenbleibt, hätte ich mich vorbereitet.
    Sie zog ihr dunkles Haar straff nach hinten und kontrollierte sich: der geordnete Pferdeschwanz. Die schmale, dunkelblaue Brille. Der dezente Lippenstift. Der herbstfarbene Hosenanzug.
    Langweilig, aber professionell.
    Draußen war weiterhin keine Lena. Melina tippte auf dem Handy die Lena-Kontakte an. Niemand meldete sich, weder bei ihr zu Hause noch am Handy.
    Lena hatte so überzeugend gewirkt beim letzten Mal. Sie wollte es so unbedingt, dass ich ihr vertraute. Vielleicht ist ihr was zugestoßen? Wenn sie sich verspätet oder den Termin vergessen hat, könnte sie ans Handy gehen. Das macht sie sonst auch.
    Melina versuchte es erneut.
    Freizeichen, Freizeichen, Freizeichen.
    Sie setzte sich unter das Mädchen, das einsam auf dem Bett saß.
    Da kommen schon die Ersten.
    Sie schoss hoch.
    Quatsch, setz dich! Vielleicht erscheint Lena doch noch und nimmt die Gruppe in Empfang.
    Melina setzte sich und schlug die Beine übereinander. Sie beobachtete, wie Jungs und Mädchen um die dreizehn Jahre ins Foyer schlichen. Ob sie einzeln angeschlurft kamen, die Samstagsvormittagsmüdigkeit im Gesicht, oder sich blödelnd rempelten oder ganz in ihre Displays vertieft waren – sie alle schauten irritiert. Denn im Eingangsbereich des großzügig bemessenen Foyers gab es ungewöhnlich viele Säulen. Wie die Außenfassade waren sie aus grünem Marmor, und sie standen besonders am Eingang eng und ungleichmäßig verteilt. Einige so nah beieinander, dass man sich nicht zwischen ihnen hindurchquetschen konnte.
    Wenn Lena was passiert ist   … Und ich kümmere mich nur um das Institut und diese Kids da   …
    Melina spürte die Adrenalinwelle. Als offerierte ihr jemand, dass sie eine Lateinklausur zu schreiben habe, an die sie nicht mehr gedacht hatte.
    Keine Panik!
    Von der Potsdamer Chaussee trat wenig Tageslicht durch die schmalen, vertikalen Fensterschlitze. Wenn überhaupt, dann kam Licht aus Punktstrahlern, insbesondere auf der östlichen Seite des Foyers, wo schwarze Ledermöbel Komfort versprachen. Dort wartete und beobachtete Melina.
    Zwei Jungs kamen näher, deuteten auf das Gemälde mit dem nackten Mädchen und machten eine obszöne Geste.
    Ein bleiches Mädchen schritt wie in Trance durch den Säulenwald.
    Drei Mädchen erzählten sich in den höchsten Tonlagen irgendetwas, das sie aufregend fanden.
    Melina sah zum tausendsten Mal auf die Uhr und biss sich auf die Unterlippe. Es schien, der Schwarm aus Jungen und Mädchen war vollständig, abgesehen von der vorgesehenen Gruppenleiterin.
    Na gut, die Show beginnt.
    Sie stand auf und hob zur Begrüßung einen Arm, als wolle sie den Verkehr regeln.
    »Meine Herren und Damen«, hob sie an und machte eine Pause.
    Es war schlagartig ruhig. Sie wusste – das hielt nur einen Moment.
    »Sie interessieren sich für das
Institut Zucker
. Mein Name ist Melina von Lüttich, und ich   … werde Sie führen. Ach ja, noch etwas   … « Pause.
    Vorsichtiges Husten ganz hinten.
    Sie fuhr fort: »Wenn wir wollen, dürfen wir uns duzen. – Was halten Sie davon?«
    Unschlüssigkeit.
    »Ich werte das als Zustimmung. Also, ich bin Melina. Falls sich jemand danebenbenimmt, werde ich ihn oder sie wieder siezen.«
    Heiterkeit.
    »Zuerst ein Wort zu diesem Gebäude. Was ist euch zuerst aufgefallen, als ihr es betreten habt?«
    Keiner traute sich.
    »Na?«
    Zaghaft, während einer gähnte: »Alles voller Säulen.«
    »Gut. Und könnt ihr euch vorstellen, was der
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