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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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meines Erachtens weder aus der epilept. Anamnese noch aus dem Unfall resultieren. Insbesondere
fehlt es an Graumasse. Sikorski hat ein Gehirn wie ein
Erwachsener. Ist Ihnen das bekannt?
    Bitte um Ihren Rat als behandelnder Experte.
    Auf Wiederlurgen, C.   Brogli
    PS
: Wer ist Kostenträger?
     
    Jan Sikorski – bei manch anderen Patienten hätte Lascheter die Datenbank bemühen müssen. Für Sikorski hatte er gerade erst die Reise-Unbedenklichkeitserklärung unterschrieben. Bergwandern im schönen Graubünden – als Epileptiker? Lascheter wusste, die letzten diffusen, fokalen Anfälle hatte Sikorski vor mehr als drei Jahren gehabt. Er wusste, wann das angefangen hatte. Er wusste, wodurch es ausgelöst wurde. Er wusste eine ganze Menge.
    Eine graue, flächige Wolke schob sich vor eine weiße, die wie ein Blumenkohl aussah und schnell aus sich selbst wuchs.
    Lascheter verwarf den Impuls, den Schweizer Kollegen anzurufen.
    Manchmal ist Reduktion auf das pure Wort besser. Man kann die Kommunikation später nachlesen. Und sie als Beleg verwenden, falls nötig.
     
    Kollege Brogli – meine Grüße in den grandiosen Kanton Zürich! Ich erwäge im Fall Sikorski seit geraumer Zeit einen
hirnoperativen Eingriff, der die einzige Option ist, seine Epilepsie
zu überwinden. Erst kürzlich konnte ich eine Vernarbung
im vorderen Kortex feststellen, nahe dem Sulcus
frontalis superior. Das ist vermutlich der Herd. In Vorbereitung
der
OP
injiziere ich seit Monaten verschiedene Kontrastgeber
– was zu dem von Ihnen beschriebenen Bild einer hell
reflektierenden Hirnmasse führte. Das muss Sie also nicht
beunruhigen.
    Verzichten Sie unbedingt auf weitere Antiepileptika, sie
können bei der Disposition Sikorskis einen letalen Schock
auslösen. Sedieren Sie so schwach wie möglich und leiten Sie
schnellstens die genannte
OP
ein. Falls Sie sie nicht selbst
durchführen, stehe ich zur Verfügung, bei Ihnen oder in meinem
Institut.
    NB
: Alle Kosten übernimmt mein Institut, Sikorski läuft
über unseren Forschungsetat. Hochachtung, Lascheter.
     
    Die weiße Knollenwolke hatte die dunklere Flächenwolke von hinten durchstoßen.
    Heftige Winde, da oben.
    Immer wieder fingerten ein, zwei Sonnenstrahlen durch die Wolken.
    Wie Laser, die jemand eingeschaltet und vergessen hatte.
    Lascheter schloss die Augen und schwebte über SikorskisSulcus frontalis superior. Er sah die Vernarbungen, die vor einem rosaweißen, fleischig glänzenden Tal lagen. Er versuchte, die Konsistenz zu spüren. Das Gewebe von innen her zu denken. Spielte mehrere Schnitte durch.
    Rostral beginnen, nasal umlenken. Klarer Schnitt.
    Und wieder knackte der Blackberry.
     
    Danke für Ihre Kooperation. Ich bin bestürzt, denn Ihr Patient
ist soeben hingeschieden. Ich deute es als eine ischämische
Attacke. Offen gesagt stehe ich vor einem Rätsel. Für eine Sedativa-Unverträglichkeit
war es eine zu plötzliche Reaktion.
Sind Sie freundlicherweise bereit, die gutachtliche Sektion
durchzuführen? C.   Brogli
     
    Professor Eugen Lascheter antwortete mit einem knappen Ja.
    Jan Sikorski tot. Und bald auf dem Seziertisch des Instituts.
    Er streckte und reckte sich im Liegestuhl und fühlte sich in der Frische des Abends wohl wie eine Katze.
    Zwischen den Wolkenspielen blitzte ein Stück Abendhimmel und schwand.
    Manchmal fügt sich alles optimal.
    Lascheter lächelte.

3
    Das Mädchen saß am Rand des Bettes, die Augen groß und starr. Unbekleidet und bewegungslos wartete sie auf dem Laken, die Hände im Schoß verschränkt.
    Ein kahles Zimmer. Kalt.
    Ihr Kopf war kindlich, die langen, dunklen Haare hingegen offen wie die einer jungen Frau. Hinter ihr, an der Wand, stieg ein Schatten auf, ihr eigener Schatten. Er stieg auf wie eine Lache. Eine Lache, die an der Wand die Form einer   … Keule annahm. Ein Schatten mit einem Eigenleben.
    Edvard Munch
stand unter dem Bild. Und:
Die Pubertät,
Nationalgalerie Oslo, 1894/​95, 151 x 110   cm .
     
    Melina von Lüttich stand vor der Kopie des Gemäldes und schüttelte den Kopf.
    Wer kommt auf so eine Idee? Das Bild einer nackten Pubertierenden in das Foyer eines Forschungsinstituts zu hängen! Die Eltern, die zum ersten Mal herkommen und sich fragen, ob sie uns ihre Kinder anvertrauen können – ihr erster Eindruck ist jetzt dieses arme Mädchen! Man müsste etwas Freundliches, Beruhigendes aufhängen.
    Sie trat einen Schritt näher.
    Munch hin, Munch her – die Wand des Zimmers mit dem Bett ist schlecht schraffiert, der
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