Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
Vom Netzwerk:
Kammer. Am Ende konnten auch Janice und ich der Versuchung nicht widerstehen und folgten ihnen, obwohl uns niemand dazu aufforderte.
    Nachdem wir uns mit eingezogenem Kopf durch das Loch geschoben hatten, kamen wir auf der anderen Seite in einer kleinen, von den Stirnlampen der Männer schwach beleuchteten Seitenkapelle wieder heraus, wobei wir fast mit den anderen zusammenstießen, weil sie gleich nach dem Eingang stehengeblieben waren. Ich reckte den Hals, um besser sehen zu können, erhaschte jedoch nur einen kurzen Blick auf irgendetwas Schimmerndes, bevor einer der Männer endlich auf die glorreiche Idee kam, seine Taschenlampe direkt auf das riesige Objekt zu richten, das vor uns in der Luft zu schweben schien.
    »Heilige Scheiße!«, stieß jemand aus. Alle anderen waren sprachlos, sogar Janice.
    Da war sie, die Skulptur von Romeo und Giulietta - viel größer und beeindruckender, als ich sie mir je vorgestellt hatte. Ihre Ausmaße ließen sie fast schon bedrohlich wirken. Es war, als hätte ihr Schöpfer gewollt, dass jeder Betrachter bei ihrem Anblick spontan auf die Knie fiel und um Vergebung bat. Ich hätte es beinahe getan.
    Obwohl die Skulptur schon seit mehr als sechs Jahrhunderten dort auf dem großen Marmorsarkophag thronte und von einer entsprechend dicken Staubschicht überzogen war, strahlte sie dennoch einen goldenen Schimmer aus, dem keine noch so lange Zeitspanne etwas anhaben konnte, und die vier Edelsteinaugen - zwei blaue Saphire und zwei grüne Smaragde - leuchteten im schwachen Licht der Kapelle mit fast übernatürlicher Intensität.
    Für jemanden, der die Geschichte nicht kannte, sprach die Skulptur nicht von Kummer, sondern von Liebe. Romeo kniete mit Giulietta im Arm auf dem Sarkophag, und die beiden sahen sich mit einer Eindringlichkeit an, die sogar bis in jenen dunklen Winkel reichte, in dem mein Herz sich versteckt hielt, und mich an meinen eigenen frischen Liebesschmerz erinnerte. Offensichtlich hatte Mom nur geraten, als sie die Skulptur in ihrem Skizzenbuch zu zeichnen versuchte. Selbst ihre liebevollsten Porträts von Romeo und Giulietta wurden den beiden nicht annähernd gerecht.
    Während ich dort stand und mich krampfhaft bemühte, meinen eigenen Kummer hinunterzuschlucken, fiel es mir schwer zu akzeptieren, dass ich ursprünglich nur nach Siena gekommen war, um diese Statue und die vier Edelsteine zu finden. Nun, da ich sie direkt vor mir hatte, empfand ich nicht mehr das geringste Bedürfnis, sie zu besitzen. Selbst wenn sie mein Eigentum gewesen wären, hätte ich liebend gerne tausendmal darauf verzichtet, wenn es mir stattdessen vergönnt gewesen wäre, in die reale Welt draußen zurückzukehren, ohne dass Cocco und Konsorten mir etwas anhaben konnten, oder Alessandro wiederzusehen, und sei es nur ein einziges Mal.
    »Glaubst du, sie haben die beiden gemeinsam in einen Sarg gelegt?«, unterbrach Janice meinen Gedankengang. »Komm ...« Sie bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Männer und zog mich hinter sich her. Als wir direkt neben dem Sarkophag angelangt waren, nahm sie mir die Taschenlampe aus der Hand und richtete den Lichtstrahl auf die in den Stein gemeißelte Inschrift. »Sieh mal! Erinnerst du dich an die Inschrift aus der Geschichte? Glaubst du, es ist dieselbe?«
    Wir beugten uns beide vor, um einen besseren Blick darauf zu haben, konnten die italienischen Worte aber nicht entziffern.
    »Wie lautete noch mal der Text?« Mit gerunzelter Stirn versuchte Janice sich an die Übersetzung zu erinnern. »O ja! Hier ruht die treue, liebevolle Giulietta ... Dank der Liebe und Gnade Gottes ... « Sie hielt inne, weil ihr der Rest nicht mehr einfiel.
    »Auf dass sie erweckt werde von Romeo, ihrem rechtmäßigen Gatten«, fuhr ich leise fort und blickte dabei wie gebannt in das goldene Gesicht von Romeo, der mir von oben direkt in die Augen zu sehen schien, »zu einer Stunde vollkommener Gnade.«
    Wenn die Geschichte, die Maestro Lippi für uns übersetzt hatte, der Wahrheit entsprach - und allmählich sah es wirklich danach aus -, dann hatte im Jahre 1341 der alte Maestro Ambrogio höchstpersönlich die Arbeiten an dieser Statue geleitet. Als Freund von Romeo und Giulietta hatte er bestimmt alles darangesetzt, sie möglichst perfekt abzubilden. Mit Sicherheit handelte es sich dabei also um eine wirklichkeitsgetreue Darstellung, die die beiden so zeigte, wie sie tatsächlich ausgesehen hatten.
    Cocco und seine Kumpane aber waren nicht aus Neapel gekommen, um
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher