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Jorina – Die Jade-Hexe

Jorina – Die Jade-Hexe

Titel: Jorina – Die Jade-Hexe
Autoren: Marie Cordonnier
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Stiefel und Strümpfe fehlten.
    Jorinas Augen wanderten abwärts über die blassen, muskulösen Waden und die schmalen, kräftigen Füße. Die harten Schwielen an seinen Händen wiesen darauf hin, dass er ritterliche Waffen zu benutzen verstand. Sie glaubte nicht, dass sie vom Gebrauch bäuerischer Werkzeuge stammten.
    Außerdem war er der größte Mensch, den sie jemals gesehen hatte, das vermochte sie zu erkennen, obwohl er lag. Stehend überragte er vermutlich jeden normalen Mann um mehr als zwei Handbreit.
    Ihn so hilflos und dahingestreckt auf modrigem, blutdurchtränktem Stroh liegen zu sehen weckte eine Mischung aus glühendem Zorn und aufrichtigem Mitgefühl in ihr. Unwillen über diese maßlose Verschwendung von Kraft und Schönheit. Teilnahme, weil sie instinktiv ahnte, dass es ihm das erste Mal in seinem Leben passierte, dass er von der eigenen Kraft so schmählich im Stich gelassen wurde. Selbst in halber Bewusstlosigkeit wirkte er beeindruckend. Mit Bedacht neigte sie sich tiefer über ihn.
    »Wasser ...« Das geflüsterte Wort war kaum zu hören.
    »Ich hab’ nichts mehr. Aber ich laufe zum Brunnen!« antwortete Jorina, ohne zu wissen, ob er sie hörte oder nicht. Dann berührte sie seine fiebernde Stirn mit sanften Fingern. »Ich komme gleich zurück! Einen Augenblick nur!«
    »Holla, Mädchen! Wohin läufst du? Es gibt noch genügend Arbeit!«
    Jorina riss sich aus dem groben Griff des Wachhabenden, der am Eingang zum Hof seine sinnlose Arbeit tat. Keiner der Männer, die hier lagen, war imstande, selbst einen Schritt zu tun oder gar zu fliehen.
    »Sie haben Durst, Herr!« entgegnete sie im Dialekt der Menschen, die rund um Auray wohnten, die Augen niedergeschlagen. »Laßt mich meinen Krug am Brunnen füllen, sonst hat’s keinen Sinn, dass man sie überhaupt pflegt! Man muss ihnen zu trinken geben.«
    »Gut, aber komm zurück, hörst du?«
    »Aber natürlich, Herr ...«
    Jorina wunderte sich selbst, mit welcher Selbstverständlichkeit sie in die Rolle der bescheidenen Magd geschlüpft war. Eines von vielen schmutzigen, zerzausten Geschöpfen, die nach der Plünderung der Stadt heimatlos umherirrten und nichts als das nackte Leben gerettet hatten. Es hieß, der Herzog höchstselbst habe befohlen, diese Frauen zur Pflege der Verwundeten einzusetzen.
    Der Feldhauptmann des Herzogs, dessen Männern sie vor den Stadtmauern von Auray in die Hände gefallen war, hatte nach einem Blick auf ihr zerzaustes Äußeres keinen Zweifel an ihrem Schicksal gehabt, und sie hatte ihm nicht widersprochen. Die Einsamkeit des Waldes war ihr bereits nach zwei Tagen unerträglich geworden. Sie sehnte sich danach, unter Menschen zu sein, die Mauern einer Stadt um sich zu haben, auch wenn diese während der Schlacht schwer gelitten hatten.
    Zudem musste sie in Erfahrung bringen, was in Sainte Anne geschehen war. Sie hatte nicht den Mut gehabt, sich dem Kloster zu nähern. Halb, weil sie fürchtete, was sie vorfinden würde, halb, weil sie Angst davor hatte, die Freiheit, die ihr so unvermittelt geschenkt worden war, wieder einzubüßen. Trotzdem wünschte sie sich menschliche Gesellschaft, Geborgenheit, Gemeinsamkeit und Sicherheit.
    »Bringt sie zu den Frauen, die sich um die verwundeten Männer kümmern«, hatte der Feldhauptmann angeordnet, und ihr war es nur recht gewesen. »Dort wird jede Hand gebraucht!«
    Jorina gehorchte wie alle anderen Mädchen den Befehlen eines völlig überforderten Feldschers, der mehr an den Weinvorräten der Herberge als an den armen Kreaturen interessiert war, die überall in den Höfen und Ställen untergebracht waren. Es verstand sich von selbst, dass er die Männer des Herrn von Montfort als erste versorgte.
    »Platz! Aus dem Weg! Macht Platz für unseren Herrn und Herzog!«
    Dieser Ruf sowie das Dröhnen der Hufe schreckte Jorina aus ihren Gedanken. Eine Kavalkade von Rittern preschte in einer Staubwolke mit aufgepflanzter Standarte durch das Stadttor die schmale Straße entlang. Jorina brachte sich und ihren Krug mit einem schnellen Satz im letzten Moment unter einem Türsturz in Sicherheit.
    Sie erhaschte einen Blick auf blinkende Harnische, schnaubende Streitrösser und Männergesichter, die halb hinter Helmen mit tief herabgezogenen Nasenstegen verschwanden. Gepanzerte Krieger, noble Kämpfer, die Sieger von Auray. Die neuen Herren des Landes samt ihrem Anführer Jean de Montfort. Einen Herzschlag lang schien es Jorina, als streife der Blick des neuen Herzogs über die Magd unter
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