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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna
Autoren: Wo die Erde bebt
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ist jung und hat weiche unbehaarte Arme und die schlechte Haltung eines Teenagers, der zu schnell gewachsen ist. Er setzt sich ein Stückchen weiter weg als Kameyama und macht ein besorgtes Gesicht. Kameyama verlässt das Zimmer mit der Zusicherung, er werde bald zurückkommen. Oguchi nestelt am linken Knie seiner Hose. Seine Finger sind lang und knochig, genau wie seine Nase, die er sich jetzt kratzt. Seine Blicke huschen in jeden Winkel der Zelle, aber er weiß, dass ich ihn beobachte, und sieht mich nicht an. Er scheucht eine Mücke von seinem Hals weg. Sie tanzt vor seinen Augen in die Höhe und kommt seinem Gesicht näher und näher. Tapfer versucht er, sie zu ignorieren, aber sie fängt allmählich an, ihn zum Narren zu halten. Dann schlägt er die Hände mit unnötiger Heftigkeit zusammen und wischt das zermatschte Tier lässig an einem weißen Taschentuch ab. Er wendet die Augen zur Tür, wartet hoffnungsvoll auf Kameyamas Rückkehr. Mir fällt auf, dass er leicht errötet ist. Ich glaube, ich hab's ihm angetan.
    Kameyama ist wo auch immer sehr beschäftigt und lässt sich eine ganze Weile nicht wieder blicken. Oguchi beugt den Kopf vor und kritzelt etwas in einen Notizblock. Mir bleibt es überlassen, mich zu fragen, was aus mir werden wird und inwieweit ich es noch beeinflussen kann. Ich denke an Teiji und daran, dass ich, wenn er bei mir wäre, keinen Gedanken an die Zukunft verschwenden würde. Aber es ist hübscher, über die Vergangenheit nachzudenken, und auch nützlicher. Wenn ich an das denke, was schon passiert ist, wird mir allmählich auch klar, wie aus der Vergangenheit die Gegenwart geworden ist, wieso meine Freundschaften in die Brüche gegangen sind und warum ich hier bin.
    Ich stelle mir vor, Teiji säße mir gegenüber auf Oguchis Stuhl, er nähme meine Hand und streichelte meine Fingerspitzen, liebkoste sie, wie weiches kühles Wasser. Die vorgestellte Empfindung lässt mich frösteln, und das genügt, um mich wieder nach Shinjuku zu versetzen, dorthin, wo ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. An dem Abend meinte ich, er bestehe aus Regen und nichts weiter.
    Ich streifte ziellos durch das Zentrum von Tokio. Es war, kurz nachdem sich Frau Yamamotos Streichquartett aufgelöst hatte, und ich wusste sonntagabends nichts mit mir anzufangen. Ich kam zu den berühmten Wolkenkratzern von Nishi-Shinjuku und war fest entschlossen, schnurstracks daran vorbeizulaufen. Die Verfasser von Reiseführern schwärmen von dieser Blade- Runner-Kulisse aus futuristischen architektonischen Gebilden, aber nach Lucys Ansicht sind das nichts anderes als langweilige Hotels und Verwaltungsgebäude, die zufällig besonders hoch geraten sind und lange Schatten werfen. Aufregend, wenn man sich im zweiundfünfzigsten Stock befindet, genickverrenkend, wenn man auf dem Bürgersteig steht. Es regnete unaufhörlich, und ich war der einzige Mensch weit und breit, der sich einen Regenschirm sparte. Regenschirme sind unhandlich und stellen mit ihrer unmenschlichen Spannweite und ihren spitzen, gefährlichen Stangen eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit dar. Lucys Haut ist wasserdicht, und ihre Sachen lassen sich jederzeit wieder trocknen.
    Vor dem Keio Plaza Hotel stand ein junger Mann zwischen zwei Strömen regenschirmbewehrter Passanten. Er stand über eine Pfütze gebeugt und machte offenbar Fotos davon. Wasser rann ihm über Haare und Gesicht, aber er schien es nicht zu bemerken. Seine Kamera klickte, und er glitt geschmeidig auf die andere Seite der Pfütze. Ich starrte gebannt hin. Er schien aus Wasser und Eis zu bestehen. Ich hatte noch nie einen Mann mit so zartgliedrigen Fingern, scharfen, spröden Schulterblättern und durchscheinenden braunen Augen gesehen. Im Neondunkel glitzerte er heller als die fünfzehn Meter hohen Eisskulpturen auf dem Sapporo Festival, die ich kurz nach meiner Ankunft in Japan bestaunt hatte. Er war ein Exponat der Tokioter Nacht und so schön, dass ich nicht an ihm vorbeigehen konnte.
    Ich ging zu seiner Pfütze und warf einen Blick hinein, um zu sehen, was ihn daran faszinierte. Das Spiegelbild des Keio Plaza Hotels teilte das schmutzige Wasser in zwei Hälften. Auf einer Seite waren strahlende Fenster und Lichter, auf der anderen Dunkelheit und ein paar schwimmende Zigarettenstummel. In meinen Augen sahen die Kippen wie Menschen aus, die aus den Fenstern des Hotels sprangen, aber er sah tiefer in die Pfütze hinein, als mein Blick reichte. Ich trat ein Schrittchen vor, sodass die
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