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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna
Autoren: Wo die Erde bebt
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erben würde. Es war noch nicht offen, aber wir setzten uns hinter den zerkratzten Holztresen im rückwärtigen Teil des Lokals und tranken geeisten Gerstentee aus hohen Gläsern. Ein kleiner Ventilator an der Wand hinter mir schwenkte geräuschvoll hin und her und blies mir kalte Luft in den Nacken. Wir sahen uns nicht an. Unsere Körper berührten sich, Seite an Seite, und ich sog seine Wärme in mich auf, machte sie mir zu Eigen.
    Oguchi beobachtet mich jetzt. Er schenkt mir ein Glas Wasser ein, und ich bin dankbar für diesen scheinbaren Beweis von Mitgefühl, obwohl ich wahrscheinlich einen durch die japanische Verfassung verbrieften Anspruch darauf habe. Mir ist heiß. Ich tauche die Finger in das Glas, streiche mir kaltes Wasser über das Gesicht. Er scheint dies als Zeichen dafür zu werten, dass das Eis gebrochen ist.
    «Sie sind schon lange in Japan. Neun Jahre?»
    Gehört das noch zur polizeilichen Vernehmung, oder quatscht er mich nur an? Ich bin mir nicht sicher. Er müsste doch eigentlich alles aufzeichnen, was ich sage, damit es später gegen mich verwendet werden kann.
    «Zehn.»
    «Was hat Sie hierher geführt?»
    Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Diese Frage hat man mir in den zehn Jahren fünfzigtausendmal gestellt. Ich habe darauf keine ehrliche Antwort, weil es keine gibt - oder weil ich nicht ehrlich genug bin, sie mir einzugestehen. Wohl habe ich aber ein paar passende Erklärungen für den Bedarfsfall. Das hier ist ein besonderer Anlass, und so fahre ich sie vollzählig auf.
    «Ein Interesse an der japanischen Kultur, ich wollte die Sprache lernen, ich musste mir etwas Geld zusammensparen, ich wollte die Welt sehen, ich wollte aus diesem trostlosen England raus, ich mag Tofu.» Die Sache macht mir Spaß, und so liefere ich ihm noch ein paar weitere aus dem Stegreif: «Essstäbchen sind leichter als Messer und Gabel, man hält sie in derselben Hand, und man kriegt nicht diesen Metallgeschmack im Mund, die Züge sind hier unvergleichlich besser, preiswert und zuverlässig, Sumo-Kämpfer haben schöne Waden, auch wenn ihre Oberschenkel manchmal für meinen Geschmack etwas zu viele Grübchen haben. Es ist unheimlich praktisch, dass man seine Rechnungen in jedem Lebensmittelladen bezahlen kann, statt darauf warten zu müssen, dass die Banken aufmachen, und dadurch zu spät zur Arbeit zu kommen. Die Schwertlilien sind im Mai wunderschön, nicht weniger schön als die pompösen pinkfarbenen Kirschblüten, von denen die Leute ständig schwärmen, genauso wie von den Geishas, die aus der Nähe betrachtet auch nichts Besonderes sind, weil man selbst durch die ganze Schminke noch ihre Pickel sehen kann, die Schulmädchen in den Zügen sind ständig am Kichern, ich kann meine Familie nicht ausstehen.»
    Ich sehe ihm an, dass er nicht so recht weiß, was er davon halten soll. Ich bin von meiner flüssigen Aufzählung selbst ein wenig überrascht und ziemlich beeindruckt. Ich werde jetzt den Mund halten. Ich werde Oguchi nicht ein Wort mehr sagen, als er von mir wissen will, denn alles, was ich sage, führt unweigerlich zu Lily. Ich werde meine liebe Not haben, die Polizei von meiner Unschuld zu überzeugen, aber eines steht unbestreitbar fest: Hätte Lily mich niemals kennen gelernt, wäre sie jetzt noch am Leben.
    Die Fakten um Lilys Tod sind, soweit ich es in diesem Stadium der Vernehmung beurteilen kann, spärlich und leicht zu missdeuten. Sie war seit einigen Monaten in Tokio, als sie eines Nachts verschwand. Ein paar Tage später wurde aus der Tokiobucht der Rumpf einer jungen Frau gefischt, nebst ein paar abgetrennten, aber dazugehörigen Gliedmaßen — welchen genau, ist mir momentan entfallen. Auch wenn die Polizei keine amtliche Identifizierung vornehmen konnte, da es keine Hände und somit auch keine Fingerabdrücke gab, schien so gut wie kein Zweifel zu bestehen, dass es sich bei der Leiche um Lily handelte. Wie Sie wissen, bestand meine Verbindung zu dem Ereignis darin, dass man sie an dem Abend ihres Verschwindens an der Tür meiner Wohnung hatte klingeln sehen. Meine Nachbarin sah, wie die Tür aufging, machte mich in der Türöffnung aus, wie ich wütend auf Lily einredete, und sah Lily weggehen. Dann beobachtete sie, wie ich ihr ein paar Minuten später nachging und dabei ein Bündel trug. Das ist eindeutig eine Lüge. Warum sagte sie nicht gleich, sie hätte gesehen, wie ich mir, nachdem ich die Haustür geschlossen hatte, einen Revolver ins Hemd steckte? Oder dass ich, während
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