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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna
Autoren: Wo die Erde bebt
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Lilys Verschwinden ab. Ich weiß nicht genau, was sie diesmal von mir wollen, aber die Sache scheint ernst zu sein. Ich sitze auf einer Bank auf einem Korridor. Die Männer, die mich hergebracht haben, sind verschwunden, und jetzt stehen zwei Polizisten da herum und palavern. Ein alter dicker und ein junger dünner. Der Dicke redet dem Dünnen zu, mich auf Englisch anzusprechen und herauszufinden, ob ich Japanisch kann. Ich habe es nicht für nötig gehalten, ihnen zu sagen, dass ich es flüssig spreche, ja, dass ich von Beruf Übersetzerin bin. Das ist eine Tatsache, die ihnen bekannt sein müsste, wenn sie überhaupt irgendetwas wissen. Jetzt sind sie zu einer Einigung gelangt. Der Dünne wendet sich zu mir.
    «Hallo. Ich werde dolmetschen.» Sein Englisch ist stockend, unsicher.
    «Hallo.»
    «Könnten Sie mir bitte Ihren vollständigen Namen sagen?»
    «Er steht auf meinem Ausländerausweis. Ich habe ihn vorhin jemandem gegeben.»
    Diese Information wird dem anderen Beamten auf Japanisch übermittelt. Die Reaktion kommt erst auf Japanisch, dann auf Englisch.
    «Es ist nicht meine Aufgabe, zu wissen, was aus Ihrem Ausländerausweis geworden ist. Ihren vollständigen Namen.»
    «Lucy Fly.»
    Der Dicke runzelt die Stirn.
    «Rooshy Furai», sage ich, um Kooperativität bemüht. Als ich das vorige Mal von der Polizei vernommen wurde, schärfte mir mein Freund Bob ein, dass ich versuchen sollte, mich normal zu verhalten, auch wenn es gegen meine Natur ging, und ich beabsichtige, so zuvorkommend wie irgend möglich zu sein.
    «Ich bin vierunddreißig Jahre alt.»
    Er reagiert nicht.
    «Ich bin nämlich im Jahr der Schlange geboren.»
    «Und Sie arbeiten in Tokio, in Shibuya», sagt der alte dicke Polizist. Als mir das auf Englisch übermittelt wird, antworte ich: «Das stimmt.»
    «Name der Firma?»
    Wieder warte ich die Übersetzung ab, bevor ich antworte. «Sasagawa.» «Sind Sie da Lektorin?»
    Gehorsam gibt mein junger magerer Freund das an mich weiter.
    «Übersetzerin. Japanisch-Englisch.» Ich rechne damit, dass jetzt der Groschen fällt, aber er tut's nicht.
    «Wie lang arbeiten Sie schon dort?»
    «Ungefähr vier Jahre.»
    «Dann sprechen Sie also Japanisch.» Der Dolmetscher sagt: «Dann sprechen Sie also Japanisch.»
    «Ja», sage ich. Na endlich, denke ich.
    «Ja, tut sie.»
    Der Polizist sieht mich an. Es ist ein argwöhnischer, unfreundlicher Blick, den ich meiner Meinung nach nicht verdient habe. Noch nicht.
    «Pera pera», sage ich. Fließend.
    «Davon haben Sie nichts gesagt.»
    «Man hat mich nicht gefragt.»
    Der Dolmetscher zieht leicht eingeschnappt ab. Ich bin froh, ihn los zu sein. Ich fand seinen Akzent nicht überwältigend. Ich bleibe mit dem alten dicken Mann allein.
    Mein Wärter führt mich zu einem Stuhl in einem kleinen Zimmer. Er nimmt mir gegenüber Platz und sieht überallhin, nur nicht mir ins Gesicht. Ich nehme es ihm nicht übel. Warum sollte er sich mein Gesicht ansehen? Lucy ist kein Ölgemälde, wie jeder weiß, der sie einmal gesehen hat. Sobald ich es mir allerdings bequem gemacht habe, zwingt er sich, den Blick auf mein Gesicht zu richten, und muss feststellen, dass er ihn nicht wieder losreißen kann. Meine Augen haben etwas an sich, das ist mir bekannt.
    «Ich möchte, dass Sie mir von dem Abend erzählen, an dem Lily Bridges-san verschwunden ist.»
    «Wissen wir denn, an welchem Abend sie verschwunden ist?» «Ich meine den Abend, nach dem sie nicht wieder gesehen wurde. Soweit uns bekannt ist, sind Sie der letzte Mensch, mit dem sie gesprochen hat.»
    «Davon habe ich Ihnen schon erzählt.»
    «Ich möchte, dass Sie es mir noch einmal erzählen.»
    «Ich war in meiner Wohnung. Es klingelte an der Tür. Ich machte auf. Es war Lily. Wir haben uns vielleicht eine knappe Minute lang unterhalten, und sie ist gegangen.»
    «Und?»
    «Ich bin wieder rein.»
    «Und danach?»
    «Nichts. Ich kann mich nicht erinnern. Als Lily kam, war ich gerade dabei, meine Wäsche abzuhängen. Wahrscheinlich habe ich damit weitergemacht.»
    «Jemand aus Ihrer Nachbarwohnung hat Sie auf dem Gang vor Ihrer Tür gesehen, wie Sie mit Bridges-san redeten.»
    Ich verdrehe die Augen. «Dann hat er oder sie vermutlich gesehen, was ich Ihnen gerade erzählt habe.»
    Er starrt mich an. Wie ein Lehrer, der geduldig auf das Geständnis eines Schülers wartet, das, wie er weiß, früher oder später kommen wird.
    «Okay. Ungefähr fünf Minuten später bin ich ihr nachgegangen. Da war noch etwas, was ich
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