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Jim

Jim

Titel: Jim
Autoren: Thomas Lang
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Nacht. Im Näherkommen sah er zahlreiche Insekten auf dem Stoff sitzen. Andere umschwirrten das Licht. Es waren erstaunlich fette Tiere darunter. Opitz schlich in einem Halbkreis um das Bett herum. Anna war allein. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen im Bett, den Rücken gegen das hohe Kopfteil gelehnt. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihre Bewegungslosigkeit war so vollkommen, dass der Bettvorhang mit den Faltern und dem anderen Getier dagegen unruhig wirkte. Ihr Gesicht sah im Licht der kleinen Lampe fahl, aber entspannt aus. Sie trug ihren naturweißen Baumwoll-Pyjama. Eine rote Kaschmirdecke floss von ihren Schultern. Sie war ein Berg. Ein roter Berg mit einemgoldenen Kopf. Wieder brach im Garten ein Ast. Anna rührte sich nicht.
    Opitz verspürte trotz seiner dicken Jacke ein Frösteln. Seiner Hand konnte die kalte Luft aber nichts anhaben. Er bewunderte Anna, die im Joga so weit fortgeschritten war, dass sie sich von innen wärmen konnte. Bis auf wenige Schritte näherte er sich dem Fußende des Bettes. Wenn sie wirklich meditierte, würde sie sich von nichts und niemandem, stören lassen. Eine Weile lang stand er bloß da und betrachtete sie, ohne viel dabei zu denken. Plötzlich sah er Mundt nicht weit von sich im Gras knien, ebenfalls in Annas Anblick versunken. Andächtig hielt er seinen Fahrradhelm vor den Bauch. In seinem Blick lag rückhaltlose Bewunderung für die vor ihm thronende Frau, und seine Lippen bebten vor Verlangen. Er streckte die Hand nach Anna aus, konnte sie aber nicht berühren. Opitz schloss die Augen und strich mit den Fingern über seine Lider, um diese Vision zu vertreiben.
    An ihre Stelle trat ein Bild, das er kürzlich in der Landlust gesehen hatte. Es zeigte einen Mann, wie er an einem kräftigen Stamm sägte, möglicherweise von einem Obstbaum. Der größte Ast war bereits abgeschnitten; die Jahresringe bildeten in der Schnittfläche ein lebhaftes Muster. Der Mann trug den vorgeschriebenen Helm in einer kräftig leuchtenden Farbe mit Gehörschutz und über das Kinn hinabreichendem Visier. Zusätzlich eine Brille, die ihn mehr nach Laie denn nach Profi aussehen ließ. Ein fachmännischerLaie. Weiße Handschuhe, wie der Helm mit dem Stihl-Schriftzug, die an den Fingerspitzen Gebrauchsspuren aufwiesen. Das Sägeschwert wirkte dagegen makellos. Es war ebenfalls weiß, ebenfalls mit dem Herstellernamen versehen. Die Säge jedoch lief – da gab es keinen Zweifel. Ihre Zähne fraßen sich brutal durch den Stamm. Auf den ersten Blick hatte Opitz geglaubt, dass die Sonne den Mann mit der Säge anschien. Tatsächlich kam das Licht von schräg unten. Der Text dazu lautete:
    «Schnell gerät man, etwa beim Stammaufschneiden, mit der Motorsäge in den Boden – die stumpf gewordene Kette muss dann geschärft werden. Nicht so bei der neuen ‹Picco duro›, die soll viermal länger sägen können als herkömmliche Ketten. Hartmetallschneiden sorgen für mehr Robustheit, selbst bei zementverkrusteten Brettern oder mit Sand durchsetztem Holz. Die Schneide besteht aus Wolframkarbid, das in der Härte Diamanten gleichkommt. Mit einem besonders geformten Treibglied vor jedem Schneidezahn und einer speziellen Abschrägung der Schneidezähne soll die Kette sehr ruhig durch das Holz laufen und weniger Vibrationen und Rückschläge verursachen. Der Preis steht noch nicht fest.»
    Die Männer, die diese Zeitschrift lasen, waren offenbar werkzeugverliebt, qualitätsbewusst und zahlungskräftig. Sie machten sich nicht wirklich schmutzig. Opitz fragte sich, ob er wie so einer aussähe, wenn er gesund geblieben wäre. Vielleicht konnte er noch sowerden. Welches Bild hatte Anna von ihm gehabt, als sie sich in ihn verliebte, und was war daraus geworden? Er hatte nie darüber nachgedacht. Die Krankheit hatte nicht zugelassen, dass er nur einen Zentimeter Abstand von sich selbst gewinnen konnte. Sie hatte hundert schlechte Seiten an ihm hervorgebracht oder sichtbar gemacht. War er vorher wirklich ein anderer Kerl gewesen, wie er es sich immer vorgemacht hatte? Oder immer schon einer, der mehr wollte, als er konnte, der sich bei anderen Autoren bediente, weil er den eigenen Ideen nicht traute, und dem zum klaren Denken die Struktur fehlte. Er zündete sich eine Zigarette an.
    Hinter dem Vorhang wirkte Anna auf ihn noch schöner. Er wollte sie so gern berühren und die Wärme ihres Körpers fühlen. Gleichzeitig sollte sie nicht merken, wie er sie betrachtete. Genussvoll sog er den herben Rauch seiner Gitanes
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