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Jim

Jim

Titel: Jim
Autoren: Thomas Lang
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schau aus wie siebenundvierzig. Jedenfalls sollte man – sollte frau – mit siebenundvierzig so ausschauen wie ich jetzt, und nicht schon mit siebenunddreißig. Es ist eine Frage der Lebenseinstellung.› Sie ist so selbstbewusst und dabei kein bisschen überheblich. Wenn sie mit einem anderen Mann schläft, nimmt sie mir nichts weg. Es ist ein Geschenk, mit dieser Frau zusammenzuleben. Komisch, oder, ich weiß nämlich gar nicht, wer solche Geschenke machen könnte.»
    Er hatte Tränen in den Augen.
    Der Alkohol hatte Mundts Stimmung gehoben. Er hörte aus den Worten seines Freundes keinen Vorwurf. Vielmehr fühlte er sich, als würde er in einer Sänfte auf den Schultern starker Männer durch eine dichte Menschenmenge getragen. Aus dieser Position konnte er Opitz genau betrachten. Er fand nichts als ein Häufchen Elend. Mundt fragte sich, wie er jemals hatte denken können, dass dieser Schwächling etwas Besonderes sei. Sie hatten sich einst in einem Seminar über Robert Wilson und die stumme Oper kennengelernt. Opitz war schon damals grundsätzlich anderer Meinung gewesen als alle anderen. Wahrscheinlich deshalb hatte Mundt in ihm einen Künstler gesehen. Dabei war er nur trotzig. Die Krankheit brachte diese Anlage deutlicher hervor. Anna würde er früher oder später verlieren, da war Mundt sich sicher. Dass sie je mit einem Mann wie diesem zusammengekommen war, schien ihm rätselhaft. Womöglich hatte auch siesich in Opitz getäuscht. Mundt überging die Vermutung seines Freundes, er hätte mit Anna geschlafen. Es schien ihm nicht nur unnötig, sondern tendenziell unmöglich, mit Opitz ein echtes Gespräch zu führen. Dieser Mann war kaputt.
    «Ich habe bei meinem Vorschlag nur an die gute Sache gedacht. Stell dir vor, wie viele Quadratkilometer Regenwald wir retten könnten», beschwichtigte er. «Ich hätte dir das niemals vorgeschlagen, wenn es ums Schreiben gegangen wäre. – Aber schreiben wird Jim ja nicht. Sein Kortex ist nicht so beschaffen.»
    «Kortex war gestern. Den Unterschied machen zwei winzige Sequenzen auf dem FoxP2-Gen. Affen und Mäuse haben es genauso wie Menschen. Aber nicht diese Sequenzen, zwei von über zweitausend Bausteinen. Das FoxP2 fördert die Aktivität von einundsechzig weiteren Genen, und es hemmt die Aktivität von fünfundfünfzig Genen. Es führt nicht nur zur Veränderung der Großhirnrinde. Es beeinflusst auch das Kleinhirn und hat damit Auswirkungen auf die motorische Koordination.»
    So wenig bei Opitz die alte Überheblichkeit verschwunden war, so sehr reagierte Mundt automatisch darauf.
    «Diese ganzen Vermutungen beruhen nur auf ein paar Versuchen mit Mäusen und isoliertem Nervengewebe. Niemand kann bis heute sagen, wie das alles wirklich zusammenhängt.»
    «Vielleicht fehlt mir eine dieser Sequenzen. Vielleichtkann ich deshalb nichts Eigenständiges schaffen. Aber ich will mich nicht entschuldigen. Auch der Andrucki-Essay ist Mist. Ich habe einen total blöden Denkfehler gemacht. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen. Oder dem Würvelner Tagblatt mitteilen, dass ich zu Andrucki leider nichts zu sagen habe. Aber ich möchte den Redakteur nicht enttäuschen.»
    «Weißt du, was ich glaube?» Mundts Ton war kalt. «Du bist der letzte Mensch auf dieser Welt, der sich noch schuldig fühlt. Deshalb bleibt Anna auch mit dir zusammen, weil du nicht frei bist, weil du der perfekte Diener bist. Bequemer kann sie es gar nicht kriegen.»
    Opitz fuhr mit allen fünf Fingern seiner gesunden Hand in sein Haar. Er nickte vor sich hin und kratzte sich dabei ausgiebig den Kopf. Er wirkte geradezu verwirrt und dabei geduckt wie ein gefangenes Tier, das sich mit seinem Schicksal abgefunden hat. Er konnte offenbar nicht mal mehr eifersüchtig werden.
    «Verlass jetzt mein Haus.»
    Jetzt war das Tier vom Baum gesprungen.
    «Du schmeißt mich raus?»
    «Ich will dich hier nie wieder sehen.»
    Es ist gar nicht dein Haus, dachte Mundt. Doch er gehorchte und ging.

Zeigefinger
    Eine Zeit lang genoss Opitz das Gefühl, Mundt rausgeworfen zu haben. Das Haus gehörte zwar allein Anna, dennoch fühlte er sich im Recht. Er bestimmte mit, wer darin ein und aus gehen durfte. Einer wie Mundt durfte es nicht. Den Verrat seines Freundes sah er als erwiesen an. Merkwürdigerweise tat er Opitz kaum weh, mochte es an seinem kleinen Triumph liegen oder dem Umstand geschuldet sein, dass er sich lediglich in etwas bestätigt fühlte, das er ohnehin lange geahnt hatte. Die Zeit für einen Bruch mit
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