Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jim

Jim

Titel: Jim
Autoren: Thomas Lang
Vom Netzwerk:
die Scheibe. Sein Blick war sanft. Allerdings schlug er niemals die Augen nieder. Das konnte einen schier wahnsinnig machen. Schnell wandte Opitz sich ab.
    Eilig schnitt er eine Scheibe von dem Brot, das offen auf der Anrichte lag, bestrich sie mit Grünkern-Linsen-Paste und verschwand mit diesem kleinen Frühstück sowie der Zeitung nach oben. Den Spiegel beachtete er gar nicht. Ganz unabsichtlich hatte er mit dem Kaffee ein dunkles A in den Milchschaum geschrieben. A wie Andrucki. Oder wie Anna? Der Schmerz hatte nachgelassen, doch vorsichtshalber ließ Opitz den kranken Arm ruhen. Er dachte kurz daran, sein Notebook einzuschalten und sich die Zeit mit Pornos zu vertreiben. Aber wie sollte er sich mit diesergrotesken Hand die Palme schrubben? Sie würde sein Geschlechtsteil erwürgen. Und mit der Rechten ging es leider gar nicht. Grimmig wünschte er sich, sein Schwanz würde sich genauso vergrößert anfühlen wie seine Hand.
    So außer Stimmung gebracht, schaute er die Aufzeichnung einer Fernsehsendung vom vorigen Abend. Es handelte sich dabei um die Show eines alternden TV-Clowns. Der war nach einer längeren Pause bärtig als sein eigener Gartenzwerg auf die Mattscheibe zurückgekehrt. Opitz interessierte, ob sich dem alten Format gegenüber irgendetwas geändert hatte. Doch der Mann, der mit seinen weißen Haaren und den gern gezeigten leuchtenden Zähnen ein Silberrücken der deutschen Fernsehunterhaltung war, bewies nur aufs Neue seinen fehlenden Sinn für Humor. Ein freies Jahr mit Reisen um die Welt – daraus hätte Opitz mehr gemacht, als sich bloß den Bart stehen zu lassen. Er hätte zum Beispiel eines der Bücher geschrieben, die in seinem Kopf längst fertig waren, oder endlich richtig Polnisch gelernt. Leider fehlte Opitz für ausgedehnte Reisen nicht nur das Geld. Statt Bücher zu schreiben, war er gezwungen, immer dümmere Artikel für immer unbedeutendere Zeitungen zu verfassen. Der Leser möchte sich in seinen Meinungen bestätigt sehen, oder er wandert zu einem anderen Blatt ab, sagte der neue Redakteur ihm bei jedem Telefonat. Woher er das wusste, sagte er nicht.
    Opitz schaute die Sendung in voller Länge an. Wieda ein Mann jenseits der fünfzig seine Grundbiederkeit und sauertöpfische Weltsicht nicht länger verbergen konnte, fand er richtig sehenswert. Die Spießigkeit stand diesem Menschen ins Gesicht geschrieben, seine Züge sagten: Glaub keinen meiner Witze! Ich find’s selbst nicht lustig. Ich will euch bloß befehlen zu lachen. Opitz lachte während der gesamten fünfundvierzig Minuten nur einmal, als zu dem hohlen Geschwätz eines Politikers Bilder einer beinah nackten Frau gezeigt wurden. Plötzlich lag in den Phrasen des Mannes etwas wie Sehnsucht.
    Nebenher blätterte er in der Tageszeitung. Er stieß auf eine Kritik der am Vortag gesendeten Show. Der leitende Redakteur hatte eine höchst lächerliche Lobhudelei zusammengeschustert. Mehrfach fielen die Wörter «angriffslustig» und «schnell». Die Gags wurden nacherzählt, das ließ sie noch müder erscheinen als im TV. Merkte denn niemand, dass hinter den Kulissen Größeres im Gang war, dass die Zeit für diese Art Witze ebenso abgelaufen war wie die der nach völlig veralteten Mustern agierenden Politiker, die damit lächerlich gemacht wurden? Das alles würde untergehen. Nur etwas Neues war nirgends in Sicht. Schnell entwarf Opitz im Kopf eine gewaschene Kritik der Show. Sie griff weit über den Anlass hinaus in den schlammigen Bodensatz der Gesellschaft. Er hätte den Lesern die Augen öffnen können. Vorbei, man ließ ihn nicht mehr. Er galt als Dinosaurier, nur weil er darauf bestand, weiter nach Ursachen und Zusammenhängenzu fragen. Er wollte aber nicht bloß irgendwelchen unterstellten Leserbedürfnissen hinterherschreiben, er konnte sich rhetorisch nicht an Fußball, Schulunterricht und Luxusgüter anpassen.
    Um sich zu beruhigen, rauchte Opitz eine seiner seltenen Zigaretten. Es war sein Glück, dass er nicht online recherchiert hatte. Sonst wäre er auf eine ganze Reihe weiterer Besprechungen gestoßen, welche die Angriffslust und Frische des Fernsehkomödianten lobten.
    Opitz war schon auf dem Weg zurück ins Bett. Die Anspannung hatte den Schmerz in seinem Arm wieder verschlimmert. Was er nicht gut im Liegen machen konnte – pinkeln, rauchen, Kaffee trinken und sich aufregen –, hatte er getan. Da Anna länger wegzubleiben schien, nahm er den Andrucki-Ordner mit. Er hatte ihn gerade aufgeklappt, als er das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher