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Jim

Jim

Titel: Jim
Autoren: Thomas Lang
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nichts. Er konnte seinem Kopf nicht vormachen, die rechte sei die linke Hand. So was funktionierte vielleicht bei Amputierten oder Schlaganfall-Patienten, aber nicht bei ihm. Auf einmal sah er sich als kleinen Jungen vor dem Spiegel stehen, die Beine geschlossen, die Füße nach außen weisend. Bis er vierzehn wurde,war er zum Ballett gegangen. Es hatte ihm Spaß gemacht, er hatte gern die engen Jazzpants und das Trikot getragen; die Erinnerung an das auf der Haut ziepende synthetische Gewebe wurde in ihm wieder lebendig. Unwillkürlich straffte er seinen Körper und beugte leicht die Knie. Der Spiegel hatte für ihn ein doppeltes Gesicht gehabt. Er hatte dem ehrgeizigen Jungen geholfen, seine Bewegungen und Haltungen zu überprüfen. Gelang ihm etwas nicht, etwa das Bein im Stehen am Oberkörper anzulegen, war der Spiegel dagegen erbarmungslos geblieben. Nie hatte er «schon ganz schön» gesagt, erst recht nicht «genug». Er hatte ihn entmutigt, bis er selbst glaubte, nicht zum Profi zu taugen. Da war es mit seiner Motivation schnell bergab gegangen. Die Frotzeleien seiner pubertierenden Klassenkameraden hatten ihm den Rest gegeben. Dabei waren die ersten Balletttänzer Männer gewesen, Könige. Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr daran gedacht. Opitz, der Tänzer – wie absurd das nun schien. Geduldig schwang er weiter seine Hand von links nach rechts, von rechts nach links.
    Der Übergang erfolgte schnell. Fast ohne Ruckeln verlor Opitz das Gefühl für den echten, hinter dem Spiegel verborgenen Arm und sah stattdessen seinen gespiegelten rechten Arm für den linken an. Er hörte auf, mit links zu dirigieren, doch das Gefühl zu dirigieren blieb. Verwirrt schaute er hinter den Spiegel. Sein linker Arm ruhte tatsächlich. Zum ersten Mal seit sieben Jahren fühlte seine linke Hand sich nicht größeran, als sie war. Er spürte sofort, dass etwas Grundlegendes geschah.
    «Das ist komplett verrückt!», rief er aus.
    Auch die Schmerzen nahmen ab. In der Schulter und im Nacken, Partien, die im Spiegel nicht zu sehen waren, wirkten sie nach wie vor stark. Als er zurücktrat und seinen Arm wieder sehen konnte, fühlte dieser sich auch wieder vergrößert an. Mit einem Schritt nach vorn konnte er sich erneut erlösen. Er glaubte noch nicht an ein Ende seiner Martern, aber die einmal gekeimte Hoffnung wollte wachsen. Beim nächsten Versuch, sich zu lösen, hielt das «normale» Gefühl etwas länger an. Beim dritten Mal verstrichen zehn Minuten, bevor die Phantomschwellung wiederkehrte. Es schien ihm nun, als habe der Standspiegel die ganze Zeit darauf gewartet, dass er endlich vor ihn hinträte.
    Weiterhin meldeten sich Zweifel. Opitz fragte sich, ob diese Spiegelsache ihn nicht gänzlich zum Phantom machte, zu einem Bild, das unabhängig von seinem Körper agierte. Gerade hatte er sich ja bewiesen, dass der Körper im Bewusstsein ohnehin nur als Spiegelbild existierte. Das Reich der Wirklichkeit verlor beängstigend viel Boden. Doch das waren die Gedanken eines Germanisten. Anna hätte nie auf diese Art über etwas nachgedacht. Für sie war Opitz’ Hand von Anfang an kein Thema. Es hätte sie nicht mal bekümmert, wenn sie tatsächlich auf das Doppelte angeschwollen wäre. Sie hatte ihm nie das Gefühl gegeben,ein Krüppel zu sein. Ihm war es oft vorgekommen, als bedauerte sie ihn nicht einmal. Nun merkte er, wie schön das immer gewesen war, wie gut von ihr! Für sie war Opitz immer der Mensch geblieben, der er war. Sie hatte keine festgelegten Vorstellungen von Normalität. Wären auf seinem Kopf Federn gewachsen, hätte sie das genauso wenig gerührt. Oder war sie einfach kalt? Wenn er bei seiner Tumor-Operation gestorben wäre, hätte Anna ihn da nicht ohne Weiteres im Garten begraben und sich umgehend wieder ihren Blumen gewidmet? So stellte Opitz es sich vor. Seine Frau war ausgeglichen bis zur Herzlosigkeit. Nur in Bezug auf Jim war das anders. Zum ersten Mal hatte Anna sehr genaue Vorstellungen, wie er zu füttern und zu pflegen war. Sie wachte geradezu ängstlich über sein Wohlergehen. Zum ersten Mal hatte er sie in Furcht gesehen, als der Affe zwei Tage lang nichts essen und trinken wollte.
    Sein schlimmer Arm fing zu kribbeln an, er war wie eingeschlafen. Opitz wandte seinen Blick vom Spiegel ab. Das Kribbeln ließ wieder nach. Er wusste nicht, ob er sich deshalb Sorgen machen sollte.

Daumen
    Gegen Mitternacht betrat er den Garten. Das Üben vor dem Spiegel hatte ihn angestrengt. Gleichzeitig
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