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Jim

Jim

Titel: Jim
Autoren: Thomas Lang
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Anna sprang derweil aus dem Bett. Barfuß und im Schlafanzug lief sie los, um Jim zu finden. Opitz sah ihre Schuhe ordentlich nebeneinander vor dem Bett stehen. Die rote Kaschmirdecke hingwie eine lange Zunge von der Matratze herunter. Opitz nahm sie an sich und eilte Anna nach. Wie weich sie wirkte im Unterschied zu der schweren, steifen Decke des Schweizer Alpenclubs! Vorläufig schlang er sie um die eigenen Schultern. Er hörte Anna «Jim! Ji-im!» rufen. Frank rief nicht. Wahrscheinlich schlief der Affe längst und scherte sich nicht darum, dass Anna ihn suchte. Was konnte ein Name für einen Affen schon sein, nicht mehr als die Verbindung einer Lautfolge mit dem Erhalten von Futter zum Beispiel. Aber war es bei den Menschen so viel anders? Auch sie lernten doch von ihren säugenden Müttern und Brei fütternden Vätern ihre Namen. Durch tausendfaches Wiederholen wurde man für sein Leben an ein paar Silben festgeschmiedet. Es war schier unmöglich, sie zu ignorieren. Jim dagegen reagierte auf Annas Rufe nur, wenn er Hunger hatte.
    Allmählich gelangten sie zur Grundstücksgrenze. Annas Stimme klang nah. Er beeilte sich nicht, zu ihr zu kommen. Die Decke wärmte so schön, dass er sie am liebsten gar nicht mehr hergegeben hätte.
    «Frank!»
    Ihre Stimme kam von oben. Er sah sie rittlings auf der Mauer sitzen.
    «Es ist passiert. Jim ist draußen!»
    «Quatsch, ich habe ihn vorhin noch im Garten gehört.»
    «Bist du dir sicher?»
    «Fast.»
    «Ich glaube aber, ich habe ihn da draußen gesehen. Wenn er bloß nicht so dunkel wäre.»
    «Wie bist du überhaupt da raufgekommen?»
    «Du steigst in den kleinen Kirschbaum, und von da», sie zeigte auf eine Astgabel, «kommst du leicht auf die Mauer. Entschuldige, jetzt habe ich wieder deine Hand vergessen. Irgendwie denke ich immer, dass dir nichts fehlt.»
    Frank saß bald hinter ihr. Er legte ihr die Decke um und drückte mit beiden Händen ihre Schultern. Er hatte das Gefühl, dass Anna leicht von ihm abrückte. Ihr Körper fühlte sich gespannt an, sie atmete heftig. Ein fieser Wind wehte dort oben, nicht stark, aber beißend kalt. Frank spürte ein feines Ziehen in seinem linken Arm. Eine deutliche Warnung. Anna streckte das linke Bein an der Mauer hinunter und ließ ihr Becken kippen, als hoffte sie, mit der Fußspitze den Boden zu erreichen. Das war absurd, die Mauer war viel zu hoch.
    «So kommst du nicht runter.»
    «Wir müssen runter! Ich muss Jim finden, bevor ihm etwas zustößt.»
    Sie wollte auch das zweite Bein auf die Außenseite der Mauer bringen.
    «Du wirst dir den Fuß brechen, Anna.»
    Er hielt ihren nackten, warmen Fuß auf der Mauerkrone fest. Anna versuchte seine Hände abzuschütteln. Sie geriet dabei fast aus dem Gleichgewicht und begann laut zu schimpfen. Frank straffte sich.
    «Ich werde runtergehen.»
    Anna machte keine Einwände. Er schwang sein Bein über die Mauer. Einen Moment lang hing er an seinen Händen. Die befürchtete Schmerzexplosion blieb aus. Dafür begannen die Muskeln in seinem untrainierten linken Arm heftig zu zittern. Sein Blick streifte die alte Fichte, die so nah an der Grenze stand, dass die Mauer in einem kleinen Bogen um sie herumgebaut worden war. Wegen der tief hängenden Äste hatten sie schon oft Ärger gekriegt. An diesem Baum hätte er bequem draußen runterklettern können.
    Zum Glück landete er weich und knickte nicht um. Als er zu Boden sah, erkannte er unter seinem Fuß den Kadaver eines Hasen. Plötzlich spürte er Annas Füße auf seinen Schultern. Sie stellte sich nicht richtig auf ihn, sie ließ die Sohlen über seine Jacke nach vorn und sich von der Mauerkante gleiten. Er staunte über ihr Gewicht, als sie auf seine Schultern plumpste. Er schwankte. Er stand. Nun hatte er ihre warme Möse in seinem Nacken. Gern hätte er lange so ausgeharrt. Nachdem Anna an ihm runtergeklettert war, liefen die beiden die nächtliche Landstraße entlang. Sie hatten sich stumm und einträchtig für eine Richtung entschieden. Anna rief ab und zu nach Jim. Sie nahm in der Dunkelheit Franks Hand. Auf der Landstraße näherte sich trotz der späten Stunde ein Lastwagen.
    «Liebst du mich noch?», fragte Frank unvermittelt.
    «Findest du, es ist ein guter Zeitpunkt für diese Frage?»
    «Ich könnte mir keinen besseren denken», sagte er fest. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Anna in den Arm, drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss, den ihre erstaunten Lippen mit einer kleinen Verzögerung erwiderten. Wie schön es
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