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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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Der Riese mit den Gummistiefeln kippte jetzt nach vorne, bumste mit der Stirn auf die Tischplatte und schlief ein. Sofort lief ihm der Saft aus dem Mund und bildete eine sich
schnell ausbreitende Pfütze. Allgemeine Lähmung machte sich breit. Nur ein paar Thekenveteranen – unter ihnen die zähe Eierlikörrentnerin – hielten die
Stellung und machten trotz fortschreitender Betäubung stur weiter.
    Allmählich machte auch Max schlapp. Er hockte alleine an einem Tisch und beobachtete mit glasigen Augen die Kerzenflamme vor sich. Er glaubte, in ihrem zarten Flackern etwas
wiederzuerkennen, eine Bewegung, einen lockenden, fordernden Tanz, etwas Geheimnisvolles, Beängstigendes, jedenfalls aber etwas unglaublich Berührendes.
    »Pst!«, flüsterte er und legte seinen Finger an die bebenden Lippen. »Kannst du es sehen?«
    Am Kerzenrand zitterten die Wachstropfen wie dicker Rotz an einem Winterabend.
    »Ich sehe nichts«, sagte ich.
    »Sie tanzt …«
    Hinter mir rutschte ein dürrer Kerl vom Hocker, plumpste mit dem Hintern auf den Boden, blieb dort unten einfach sitzen und verlangte mit trotzig vor der Brust verschränkten Armen,
dass man ihm gefälligst sein Getränk herunterreichen solle. In diesem Moment war mir klar, dass die Nacht gelaufen war.
    »Lass uns abhauen!«, schlug ich vor. Aber Max schüttelte nur stumm den Kopf. Seine Augen waren von einem intensiven Rot umrändert, und in den engen Pupillen spiegelte sich
das tanzende Flämmchen. Es war völlig klar, dass es hier für ihn noch etwas zu erledigen gab. Ich ging zum Heiligen Ernst, schob ihm mein ganzes Geld über den Tresen und wankte
ins Freie.
    Draußen war es mittlerweile hell geworden. Ein mattsilbriges Winterlicht lag über der Stadt. An der Straßenbahnhaltestelle standen schon Fahrgäste. Frierende Frauen und
Männer, die sich mit der ersten Zigarette des Tages die Wollfäustlinge versengten. Die Kälte war schneidend. In meinem Kopf rauschte es dumpf. Hinter mir drang leise James Lasts
blecherner Swing heraus, dazu das Knarren von Holz, ein Stöhnen, ein dunkles Murren, ein gedämpftes Grölen, Stimmen einer anderen, dunklen Welt. Ich atmete tief ein, spürte, wie
die Kälte meine Lungen füllte, hustete, schlug meinen Kragen hoch und knirschte auf der hart gefrorenen Schneedecke nach Hause.

DAS RAUSCHEN DER AMSEL
    Ich hörte den Wecker nicht. Auch nicht die Müllabfuhr unten im Hof oder das Taubengetrippel auf dem Fensterbrett und schon gar nicht mein eigenes Kopfrauschen und
Herzpochen. Ich hörte und träumte und spürte nichts mehr. Ich war tot. Erschlagen vom Alkohol, erwürgt, ertränkt und zugedeckt mit dem kühlen, weißen Tuch der
Stille.
    Aber dann doch: Mitten in dieser ewigen Leere erreichte mich der Finger Gottes. Eine Fingerspitze, eine Berührung an der Stirn, leicht und feucht. Und gleich darauf noch einmal, diesmal an
der Schläfe, direkt am Haaransatz über dem Ohr. Ein kurzes, feuchtes Antippen. Und noch eines, jetzt am Hals, an dieser zarten Stelle über dem Schlüsselbein. Weich. Kühl.
Feucht. Nass.
    Und auf einmal war mir alles klar: Das hier war gar nicht der feuchte Finger Gottes! Das hier war einfach nur Wasser. Stinknormale Wassertropfen, die mir ins Gesicht, auf den Hals, auf den
ganzen Körper tropften und nach und nach eine unangenehme Feuchtigkeit im Bettlaken verbreiteten.
    Pitsch! Einer erwischte mich an der Schulter. Patsch! Wieder einer an der Stirn, genau zwischen die Augen. Ganz langsam blinzelte ich mich aus meiner stillen Ewigkeit in die Realität
zurück. Ich lag auf dem Rücken in meinem Bett und sah zur Decke hoch, wo der Fleck, der vor Kurzem noch Spanien darstellte, mittlerweile ziemlich beunruhigende Ausmaße angenommen
hatte. Eine riesige, unförmige Fläche, dunkel und glänzend vor Nässe, aus der sich in unregelmäßigen Abständen bräunliche Tropfen lösten und mir ins
Gesicht oder sonstwohin fielen. Pitsch! Patsch! Pitsch! Ich wälzte mich an den Bettrand und sah zum Fenster hinaus. Die Helligkeit von dort draußen drang direkt in meinen Kopf, und
sofort begannen Tausende kleine Hämmerchen wie wild an meinem Hirn herumzuklopfen. Gleichzeitig kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Der Film. Der Schnaps. Max. Der
Friedhof. Der Heilige Ernst. James Last. Und so weiter.
    Doch da war noch etwas. Etwas, dass zwischen den Hammerschlägen in meinem Schädel undeutlich hervorschimmerte, dunkel und unangenehm wie eine böse Ahnung. Und plötzlich
schoss es mir wie
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