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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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wabernde Luftblasen und zerploppen ohne Antwort an der Oberfläche. Dann ein langer Schritt ins Leere, ein kühler Luftzug, ein Blitz, ein Knall, schmerzhaft hell,
ohrenbetäubend und wunderschön …
    Als ich wieder zu mir kam, lag ich ausgestreckt quer über den Stühlen in der ersten Reihe und blickte in Irinas verschwommenes Gesicht über mir. Es dauerte eine
ganze Weile, bis ihre Umrisse allmählich Konturen bekamen. Sie lächelte, aber ihr Blick war ernst. Sie hatte sich ihren Amselschnabel hoch über die Stirn geschoben, von dort ragte
er jetzt wie ein spitzer, gelber Kegel schief in den Raum. Allmählich konnte ich wieder klarer sehen. Das Licht im Zuschauerraum war an, die Kinder waren verschwunden. In meinem Schädel
wummerte es dumpf wie in einem Basslautsprecher. Ein widerlich-pelziges Geschmacksgemisch von Alkohol, Magensäure und süßlichem Blut füllte meinen Mund. Ich befühlte
vorsichtig mein Gesicht. Aus der Stirn wuchs eine riesige, heiß pulsierende Beule. Irina nahm meine Hand weg und drückte mir stattdessen einen nasskalten Stofffetzen auf die Stelle. Mit
einem Ächzen drehte ich den Kopf zur Seite. An der Bühnenrampe saß Janos und sah zu mir herüber. Auch er steckte immer noch im Kostüm. Er sah müde und alt aus. In
seinem Mundwinkel hing ein glimmender Zigarettenstummel, dessen Rauch in einer bläulichen Fadenlinie fast senkrecht nach oben zog.
    »Ich … ich bin umgekippt …«, stammelte ich. »Einfach so … hab wohl das Bewusstsein verloren … der Kreislauf … oder
so …«
    »Halt lieber den Mund. Deine Schnapsfahne weht bis hierher«, sagte Janos ruhig.
    Eine Weile war es still im Theater. Unter dem nassen Stofffetzen auf meiner Stirn wummerte die Beule.
    »Tut mir leid!«, sagte ich leise.
    Plötzlich ließ sich Janos aus dem Sitzen nach hinten fallen, schleuderte gleichzeitig beide Beine in die Höhe und wand sich mit einer einzigen, geschickten Bewegung aus seinem
Wurmkostüm. Darauf sprang er von der Rampe, blieb direkt vor mir stehen und blickte auf mich herab. Seine Glatze glänzte im Scheinwerferlicht, zwischen den vielen tiefen Runzeln in seinem
Gesicht stachen die Augen hervor, schwarz wie Kohlenstücke, mit einem winzigen Tropfen Quecksilber genau in der Pupillenmitte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und blickte direkt
hinein.
    »So kann es nicht mehr weitergehen!«, sagte ich.
    »Es kann nie so weitergehen …«, knurrte Janos. Er musterte mich, als ob er mich gerade zum ersten Mal gesehen hätte. Und auf einmal brach sein Gesicht auf,
und sein Mund zog sich zu einem breiten, goldglänzenden Lächeln auseinander.
    »Bist ein guter Junge!«, sagte er. »Und du wirst noch besser!«
    Er packte meine Hand und drückte sie. Meine Finger fühlten sich ganz zart an in seiner warmen, rauen Pranke. Ohne ein weiteres Wort ließ er los, sprang flink wie ein
Achtzehnjähriger auf die Bühne und verschwand in der Seitengasse.
    Irina saß immer noch da und sah mich an. Erst jetzt erkannte ich, wie ähnlich die beiden sich sahen. Vielleicht näherte sich ihr Äußeres im Laufe der Jahre immer
weiter an, bis sie irgendwann nicht mehr auseinanderzuhalten sein würden.
    Sie nahm den feuchten Fetzen weg und legte mir stattdessen ihren Daumen auf die Beule. Dabei begann sie zu murmeln. Zuerst war es nur ein einziger, lang gezogener Ton, ein tiefes, heiseres
Summen, wie das Geräusch von schweren Reifen im G. Aber bald begannen sich andere Geräusche aus diesem Summen herauszulösen, das leise Platzen eines Spucketröpfchens, ein
kaum hörbares Schnalzen mit der Zunge, ein Schmatzen, ein Grollen, Stocken, Sirren und Gurgeln. Dazwischen stießen immer wieder kurze, abgehackte Laute hervor. Einzelne Silben bildeten
sich. Worte in einer völlig unverständlichen Sprache, fremdartig und geheimnisvoll. Ich konnte mich nicht rühren. Fühlte mich wie festgeschnallt auf den Stühlen und starrte
in dieses faltige, schöne und volltönende Frauengesicht über mir.
    Plötzlich hörte sie auf. Ich schloss die Augen. Sie beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
    Die Schmerzen waren weg.
    Als ich die Augen wieder öffnete, hatte sie den Zuschauerraum schon verlassen. In der Seitengasse hörte ich noch leise ihr Gefieder rauschen.

LINIE ELF
    Die letzten Vorstellungen erlebte ich als Zuschauer meines eigenen Films. Alles verlief reibungslos. Jeder war bei der Sache. Keine Hänger, keine Stürze, keine
besonderen Vorkommnisse. Wir hielten uns
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