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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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einigermaßen an die Absprachen und dazwischen improvisierten wir, was das Zeug hielt. Ich gab alles, was ich hatte. Und ich fühlte mich gut
dabei. Der Karren lief. Das Publikum war zufrieden. Das Wunder funktionierte.
    Wir spielten noch siebenmal das Wurmloch und achtmal die Höllenfahrt. Nach der allerletzten Vorstellung, als der Applaus des fünfköpfigen Publikums endgültig vertröpfelt
war und die Leute den Zuschauerraum verlassen hatten, schlüpften wir aus unseren Kostümen und fingen an, die Requisiten und das Bühnenbild abzuräumen. Danach setzten wir uns im
Schneidersitz auf die leere Bühne und hörten dem Theaterknistern zu.
    Kurz nach Mitternacht standen wir auf, machten das Licht aus und verließen das Theater. Ein letztes Mal strich ich mit den Fingern an der schwarzen Wand entlang, stieg die enge Treppe
hoch, atmete den staubig-muffigen Duft ein und schloss die kleine Tür hinter mir.
    »Mach gut, Kleiner!«, sagte Irina.
    Janos sagte nichts mehr. Er streckte mir zum Abschied einfach die Hand entgegen und nickte mir stumm zu. Im kleinen Glaskasten neben der Eingangstür brannte immer noch ein verstaubtes
Lämpchen und streute sein mattes Licht auf das Programm der nächsten Wochen.
    In meine Wohnung war ich nach dem Apfelbaumsturz nur noch einmal zurückgekehrt, um die Bücher und ein paar andere Sachen in Sicherheit zu bringen. Wie sich
herausstellte, war ich schon seit längerer Zeit der letzte Mieter gewesen. Die Wasserrohre waren durchgerostet und stellenweise aufgebrochen. Das Haus hatte die Nässe aufgesogen wie ein
Schwamm. Bis die Mauern schließlich gesättigt waren. In den Wänden gluckerte es geheimnisvoll, überall fing der feuchte Putz an zu bröckeln, und in den Ecken wucherte
Schimmel. Als letzter Bewohner hatte sich Herr Mohapp in eine Kammer unter dem Dach zurückgezogen. Dort saß er den ganzen Tag an einer schmalen Luke und knallte mit einem Luftdruckgewehr
die Tauben von den Fenstersimsen. Die Leichen sammelte er in große, blaue Plastikmüllsäcke und fuhr damit mit der Straßenbahn quer durch die Stadt, um sie irgendwo auf dem
Acker zu verbrennen. Er werde nicht aufgeben, erklärte er verbissen, unter keinen Umständen, niemals, er werde diesen verschissenen Pestviechern das Terrain nicht einfach so
überlassen, er werde die Sache zu Ende bringen, ohne Gnade, ohne Rücksicht, und wenn er selbst dabei draufgehe!
    Er warf einen gleichgültigen Blick in die Wohnung, in der es mittlerweile gluckste und tröpfelte wie in einer Tropfsteinhöhle, nahm mit einem kurzen Nicken die Schlüssel
entgegen, erließ mir großzügig die letzte Monatsmiete und wünschte mir alles Gute. Als ich den Hof verließ und um die nächste Ecke bog, hörte ich hinter mir
noch eine ganze Weile das dumpfe Ploppen seines Luftdruckgewehrs in der lauen Abendluft verklingen.
    Die letzten Nächte vor meiner Abreise verbrachte ich wieder zu Hause, in meinem viel zu klein gewordenen Kinderzimmer, unseren alten Kirschbaum im Fensterblick.
    Wir standen früher auf als sonst, draußen war es noch dunkel, und die Dielen waren eisig kalt unter den nackten Füßen. Doch in der Küche blubberte
freundlich der Kaffee, und es roch nach aufgebackenen Brötchen, Eiern und Speck. Vater saß schon fertig hergerichtet am Küchentisch. Brauner Anzug, Krawatte, glänzend geputzte
Schuhe. Die dünnen Haare hatte er sich zu einem akkuraten Scheitel frisiert und mit einer gehörigen Portion Gel an den Kopf geklebt.
    Wir saßen uns schweigend gegenüber und vermieden es, uns in die Augen zu schauen. Der Kaffee war heiß und stark. Die Eier und der Speck brutzelten in der Pfanne, die Butter
schmolz auf den warmen Brötchen, und die Kruste krachte leise beim Hineinbeißen. Räuspern. Kauen. Schlucken. Leises Schlürfen. Das Summen der Heizungsrohre. Das Ticken der
Wanduhr.
    Den Abwasch erledigten wir gemeinsam. Schulter an Schulter. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass ich größer war als er. Einen halben Kopf vielleicht, aber immerhin. An seiner linken
Schläfe pulsierte das bläuliche Aderwürmchen. Hinter den Ohren sprossen ein paar lange, silbrige Haare hervor. Die Fältchen unter seinen Augen waren ganz fein verästelt und
hingen wie ein hauchzartes Netz unter den Lidern. Er arbeitete schnell und routiniert. Überall flogen winzige Schaumbläschen herum, zerplatzten an seinem Sakko und hinterließen
dunkle, kreisrunde Flecken.
    »Das wars!«, sagte er, glättete mit den Fingerspitzen sorgfältig den Saum des
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