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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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Busch, tauchte aber sogleich mit seiner schneebestäubten
Pelzmütze auf dem Kopf wieder auf.
    »Und jetzt gehen wir feiern, Alter!«, sagt er und grinste.
    Und in diesem Moment, im kürzesten Bruchteil einer Sekunde, schoss mir die Klarheit wie ein winziger Blitz durchs Hirn, und ich wusste, dass diese Nacht ein Abschied war.

JAMES LAST IN DER UNTERWELT
    Der Heilige Ernst begrüßte uns mit einem mürrischen Grunzen, dem äußersten Zeichen einer gewissen wohlwollenden Anerkennung, dessen er sich meines
Wissens jemals bedient hatte. Das übliche Publikum war da: die Biertrinker, die Schnapssäufer, die Likördrosseln, die schweigsamen Brüter, die redseligen Plaudertaschen, die
dürren alten Männer mit dem flackernden Blick, die dicken alten Frauen mit dem schweren Atem. Alles war von einer dichten Rauchschicht umnebelt, aus der nur der Heilige Ernst wie ein
schiefer Leuchtturm herausragte und den Verirrten und Untergehenden den Weg zur Theke wies.
    Das erste Bier tranken wir gegen den Durst. Das zweite, um auf den Geschmack zu kommen, das Dritte, weil es nun schon einmal dastand. Anschließend schlug Max mit der flachen Hand
klatschend auf die feuchte Theke und bestellte eine Lokalrunde, die von den Gästen mit einem kurzen Heben der schweren Köpfe und einem düsteren Nicken quittiert wurde.
    Wir beschlossen auf Wein umzusteigen. Es gab einen Roten und einen Weißen. Wir entschieden uns für den Roten, und das war ein Fehler. Schnell disponierten wir um und spülten den
fauligen Geschmack mit einem kühlen Weißen hinunter, der so sauer war, dass uns der Saft aus den Mundwinkeln lief. Als Max eine weitere Lokalrunde spendierte, ging ein anerkennendes
Raunen durch den Raum. Die Sache wurde ernst. Eine dicke Fünfzigjährige im ausgeblichenen Blümchenkleid versuchte unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem sie mit schweren
Lidern beständig zu uns rüberzwinkerte und dabei unbeholfen an ihren Plastikohrringen herumspielte. Einer der Thekensäufer, ein Kerl mit prall gefüllten Tränensäcken
und dunkelgelben Pferdezähnen, beugte sich kumpelhaft zu mir und wollte wissen, wie es denn meinem Mädchen zu Hause gehe und ob ich denn heute schon meinen Pimmel in ihre weiche
Mädchenfreundlichkeit versenkt hätte. Ich ersuchte ihn höflich, doch jetzt gleich seinen Kopf in den eigenen Arsch zu stecken. Max bestellte Pflaumenschnaps für alle, woraufhin
die Stimmung herzlich wurde. Die Leute begannen sich aus ihrer eigenen Aura herauszubewegen und die Nähe der anderen zu suchen. Man fing an sich zuzuprosten, zu erzählen und zu
politisieren. Nach zwei weiteren Runden (Birnenbrand und Pfirsichgeist) rammte einer der Männer seine Stirn gegen die Wandverkleidung und verlangte mit heiser gebrülltem Nachdruck nach
Musik. Für ein paar Sekunden wurde es unheimlich still im Raum. Alle Blicke waren auf den Heiligen Ernst gerichtet. Noch nie hatte jemand gewagt, einen solchen Wunsch zu äußern,
seitdem man sich erinnern konnte wurde hier ohne Musikbegleitung getrunken. Die Weinstube war ein stiller, dunkler Tempel eines hochprozentigen Gottes.
    Der Heilige Ernst hielt den lauernden Blicken stand, die aus den Rauchschwaden herausstachen. Seelenruhig polierte er ein dreckiges Bierglas, hielt es gegen die Deckenlampe, kniff die Augen
zusammen, wischte noch einmal, stellte das Glas weg und zündete sich eine Zigarette an. Und dann geschah das Unfassbare: Er griff unter die Theke und fingerte dort unten eine Weile leise
klackernd herum. Und auf einmal ging es los. Eine Art stampfende Gute-Laune-Musik, blechern und praktisch ohne erkennbare Melodie, dafür mit jeder Menge Instrumenten und einem immerhin recht
hüftlockeren Swing.
    Der Mann im weißen Anzug. Mr Non-Stop-Dancing. James Last.
    Niemand der Gäste hätte dem Heiligen Ernst zugetraut, eine James-Last-Kassette unter dem Tresen versteckt zu haben. Die Vorstellung, dieser graue Hades würde seine kleine
Unterwelt nach Ladenschluss verriegeln, sich in eine Ecke setzen und den tröstlich swingenden Arrangements lauschen, erschien den meisten als geradezu absurd. Aber jetzt war James Last nun
einmal da. Es war, als ob er auf einer silbrig gleißenden Showtreppe direkt zu uns in diese verstunkene Saufbude herabgestiegen wäre. Ein Gejohle und Gegröle ging los, und in den
verkalkten oder weichgesoffenen Adern begann das Restblut zu brodeln. Da zuckten die Schenkel und wippten die Hüften. Ein Teil der Gäste wurde regelrecht übermütig. Zwei schwer
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