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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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ein Faustschlag mitten ins Bewusstsein: Das Theater! Die Vorstellung! O Scheiße, Scheiße, der Apfelbaum!
    Der Wecker zeigte zehn nach elf, die Vorstellung hatte längst angefangen. Ich sprang aus dem Bett und lief ins Bad. Aus dem Spiegel starrte mir eine graue Fratze mit tiefen Augenhöhlen
entgegen. Ich drehte den Wasserhahn auf, hielt meinen Kopf unter den eiskalten Strahl und dachte nach. Bis zu meinem Auftritt hatte ich fünf Minuten, vielleicht zehn, wenn Janos und Irina ein
wenig improvisierten. Zum Theater brauchte ich normalerweise zehn Minuten, für Kostüm und Maske eine Viertelstunde. Eigentlich konnte ich es nicht schaffen. Aber ich musste. Ich lief aus
dem Bad und sammelte meine Kleider ein, die überall verstreut im Zimmer herumlagen. Das Zeug war feucht und stank wie ein Maischebottich. Ich hielt die Luft an, schlüpfte hinein und
stolperte ins helle Vormittagslicht.
    Ich rannte wie noch nie in meinem Leben. Ohne Rücksicht auf Autos, Passanten oder andere Hindernisse. Schon nach wenigen Metern atmete ich schwer. Keuchte. Schwitzte. Die eisige Winterluft
brannte an meiner Stirn. In langen Schnüren baumelte mir der Rotz aus der Nase. Mein Herz hämmerte den Takt für die miesen kleinen Teufel, die mit ihren genagelten Bergschuhen auf
meinem Hirn herumtanzten. Doch ich hielt das Tempo. Legte sogar noch zu. Ich musste es einfach schaffen. Ich wollte Janos und Irina auf keinen Fall enttäuschen. Lieber im vollen Lauf aus der
Kurve fliegen und mit zerrissenem Herzen auf den Asphalt klatschen, als den Auftritt verpassen.
    Als ich die Treppen ins Foyer hinunterpolterte, war es zwanzig nach zehn. Durch die geschlossene Saaltür hörte ich, wie Janos und Irina ein verzweifeltes Liedchen extemporierten, um
das Publikum bei Laune zu halten. Ich hustete laut, um mich bemerkbar zu machen. Schnell stolperte ich durch den dunklen Gang nach hinten in die Garderobe, schleuderte meine Sachen von mir,
klatschte mir eine Handvoll Schminke ins Gesicht und schlüpfte ins Apfelbaumkostüm. Kurz hatte ich den Drang, mich zu übergeben, die ganze Soße in einem einzigen Schwall gegen
mein eigenes Spiegelbild zu kotzen. Aber draußen warteten Janos und Irina. Und die Kinder. Und der Rest meines Stolzes. Nach einem tiefen Atemzug öffnete ich die Tür und schlich zur
Bühne.
    Schon in der Seitengasse sah ich, wie sich Janos und Irina abmühten. Janos hatte damit begonnen, den direkten Kontakt mit den Kindern zu suchen. Er saß in seinem Wurmkostüm an
der Bühnenrampe und erzählte irgendwelche Anekdoten. Im Bühnenhintergrund drehte sich Irina leise trillernd im Kreis und flatterte dazu mit ihren Amselfedern.
    Ich warf einen kurzen Blick durch den Guckschlitz in den Zuschauerraum. Die Vorstellung war gut besucht. Etwa dreißig oder vierzig Vorschulkinder drängten sich in den Stuhlreihen und
schauten mit verrotzten, etwas verwunderten Gesichtern zum stockenden Geschehen auf der Bühne hoch. An der Rückwand standen die beiden Tanten, riesige, dickbrüstige Weiber in
wallenden Hosen und bunten Pullovern.
    Janos bemerkte mich zuerst. Mit einem zwischen Wut und Erleichterung schwankenden Gesichtsausdruck starrte er zu mir herüber. Dann sprang er auf, brüllte »Szenenwechsel!«
und lief auf der anderen Seite von der Bühne. Irina flatterte hinterher, und es wurde dunkel. Für ein paar Sekunden erhob sich ein aufgeregtes Raunen, Kichern und Zischeln im
Zuschauerraum, mit einem blechernen Sirren gingen die Scheinwerfer wieder an, und ich setzte mich in Bewegung. Langsam, sehr langsam, schlurfte ich über die Bühne bis ganz nach vorne an
die Rampe und reckte meine Äste in die Höhe.
    »Guten Morgen, Kinder!«, sagte ich mit knarrender Stimme. »Ich bin der Apfelbaum!«
    Die Kinder lachten, klatschten, trampelten, riefen mir etwas zu, vielleicht eine Begrüßung, vielleicht eine Information über die Probleme von Wurm und Amsel. Ich verstand sie
nicht mehr. Nur noch Herzhämmern. Kopfdröhnen. Rauschen. Fiepen. Das Gezwitscher eines Spatzenschwarms in einer nachtdunklen Baumkrone.
    »Vor Hunderten von … äh … Jahren … äh …«
    Aus.
    Kalter Schweiß. Nebel. Und dazwischen ein paar leuchtende, hüpfende, tanzende Pünktchen.
    »Vor Hunderten … von … äh … Jahren … äähh …«
    Schwarz. Absolute Finsternis. Ein Rauschen in der Baumkrone. Ein Abgrund. Ein Strudel. Und ganz unten, in den dunkelsten Tiefen des Unterbewusstseins lösen sich ein paar undeutliche Fragen,
steigen hoch wie
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