Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
Vom Netzwerk:
Schnapsflasche, ich hob
sie auf und nahm einen tiefen Schluck. Das Zeug schmeckte widerlich wie eh und je, aber der Ofen begann wieder zu heizen.
    Im schneebedeckten Gebüsch unter dem Baum regte sich etwas, ein leises Rascheln, eine kleine Bewegung in den Blättern, das Rieseln von Schnee, und auf einmal teilten sich die Zweige
und etwas Kleines, Dunkles zischte oben aus dem Busch heraus, hopste mit kratzenden Krallen den Baumstamm hoch und blieb schließlich regungslos in einer Astgabel sitzen. Ein
Eichhörnchen. Der buschige Schwanz war hoch aufgerichtet und bewegte sich ganz leicht hin und her, in den großen, schwarzen Augen glänzte das Mondlicht. Für ein paar Sekunden
starrten wir uns an. Dann ein Kratzen, ein Rascheln, ein Rieseln, und weg war es. Ich schaufelte eine Handvoll Schnee vom Boden und rieb mir damit das Gesicht ab. Einen großen Brocken stopfte
ich mir in den Mund. Es schmeckte süß und rein. Ich schleuderte die Schnapsflasche von mir und hörte, wie sie irgendwo auf einem schneebedeckten Stein dumpf zerplatzte. Noch einmal
beugte ich mich zu Mutters Grabstein hinunter und legte meine Wange darauf, genau an die Stelle, wo ihr Name eingemeißelt war. Ich hörte das Klopfen meines Pulses und spürte, wie
die Traurigkeit wieder zurücksank auf den tiefsten Grund meines Herzens.
    Max wartete schon am Tor. Er stand mit dem Rücken an die Gusseisenverstrebungen gelehnt und sah fix und fertig aus. Seine Haare waren feucht und ragten völlig
ungebändigt in alle Richtungen. Sein Gesicht unter der verrutschten Pelzmütze war kalkweiß, die Stirn glänzte matt, die Wangen waren fahl und eingefallen, unter den Augen hing
ein aschgrauer Schatten. Seine Schnapsflasche war er anscheinend auch losgeworden.
    »Alles klar?«, fragte er. Ich nickte.
    »Und bei dir?«
    Er senkte den Kopf und sah sich seine Schuhspitzen an. Schwere Halbschuhe, aus denen oben das pelzige Innenfutter herausquoll.
    »Sie ist schwanger!«, sagte er leise und rau.
    »Wer?«, fragte ich dumm.
    »Lotte.«
    Ich spürte, wie mir jemand an den Hals fasste. Zwei knotige und eisig kalte Krallen, die mir ihre nagelspitzen Daumen in das Fleisch direkt unter dem Kehlkopf stachen und begannen, mich
von oben nach unten aufzureißen, ganz langsam: Hals, Brustbein, Lungenflügel, Herz, Bauchdecke, Eingeweide, den ganzen Körper, bis ich dalag wie ein aufgebrochenes Stück Wild.
Aber das Merkwürdige dabei war: Ich spürte keine Schmerzen. Vor mir im blutigen Schnee lag mein warmes, pochendes Herz, und ich fühlte mich gar nicht schlecht. Im Gegenteil: Es war,
als hätte ich die letzten paar Kilo einer schweren Last verloren. Jetzt konnte es losgehen. Ich sammelte meine Innereien wieder zusammen, stopfte alles an seinen Platz zurück, trat einen
Schritt auf Max zu, nahm ihn beim Kragen und fing an, kräftig an ihm zu rütteln.
    »Weißt du eigentlich, was das bedeutet!«, brüllte ich.
    »Klar!«, schrie Max und packte mich ebenfalls am Kragen. »Ich werde Vater!«
    »Scheiße!«, brüllte ich.
    »Nein!«, schrie Max. »Es ist nicht Scheiße! Es ist ein Wunder! Verstehst du? Ein gottverdammtes Wunder!«
    Wir brachen in ein wildes Gelächter aus und begannen wie durchgedrehte Böcke umeinander herumzuhüpfen. Max warf seinen Kopf in den Nacken und lachte sein ganzes Glück in die
eisige Nachtluft hinaus. Dabei löste sich seine Pelzmütze vom Kopf, flog in hohem Bogen und mit wild flatternden Ohrenschützern durch die Luft und landete raschelnd wie ein
aufgeschrecktes Rebhuhn im Gebüsch.
    Irgendwann ging uns die Luft aus und wir ließen uns mit den Rücken gegen das Tor fallen. Schweigend lehnten wir so nebeneinander und sahen den Hauchwölkchen zu, die uns aus dem
Mund dampften.
    »Dieser Film war sowieso scheiße!«, sagte Max nach einer Weile.
    »Ja«, sagte ich. »Richtig scheiße!«
    »Ja«, sagte Max.
    Der Himmel war jetzt endgültig aufgeklart. Die Luft war rein und klirrend kalt, überall blitzten Sterne auf, und das Mondlicht brachte die Schneedecke zum Funkeln.
    Plötzlich spürte ich Max’ Gesicht dicht bei mir. Seinen Atem an meiner Haut. Seinen Mund an meiner Wange. Eine Berührung. Einen Kuss. Schüchtern und zart. Fast
gleichzeitig zuckten wir zurück und schauten verschämt auf den zertrampelten Schneeboden. Wahrscheinlich war Max noch ein bisschen überraschter als ich. Ich hörte sein lautes
Schniefen und sein unterdrücktes Räuspern neben mir. Dann stieß er sich vom Gitter ab und verschwand kurz hinter dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher